Lesereise - Jakobsweg
Abreise die Weltkarte studiert, und seine Frau habe ihn fast nicht fahren lassen, weil Graz so nahe bei Sizilien liege – und von dort höre man ja die schlimmsten Geschichten.
Wir haben einen durchwegs angenehmen Eindruck vom Baskenland: Die Sonne scheint, die Menschen sind freundlich und grüßen alle. Die Ortsnamen stehen auch in Baskisch auf den Schildern, und die Geschäfte in der Stadt erkennt man gar nicht, weil der Name nur in Baskisch dasteht. Diese Sprache hat viele As und viele Zs und klingt gänzlich fremd.
Die Landschaft hat sich wenig verändert. In den Wäldern riecht es betörend nach Herbst, auf den Wiesen stehen Kühe, die heißen »Blondes d’Aquitaine« und sehen auch so nobel aus. Nur das Wasser fließt üppiger und ist sauberer. Die Berge schicken viele kleine Bächlein in die Ebene hinab, was uns einerseits erfreut, andererseits mit Sorge um Jean und Modestine erfüllt.
Saint-Palais, unser heutiges Ziel, liegt ein wenig abseits des Weges. Wir haben viel Gutes über das hiesige Franziskanerkloster gehört. Zu Recht. Das Matratzenlager ist zwar sehr einfach, der Empfang durch die Mönche (es sind nur noch drei!) aber außergewöhnlich herzlich. Zwei Drittel der Mönche sind ziemlich alt. Sie tragen die traditionelle braune Wollkutte mit Kapuze und gehen barfuß in Sandalen. Ihre Füße scheinen nur aus Hornhaut zu bestehen. Das schützt hoffentlich vor Kälte.
Wir essen mit ihnen sowie mit fünf Studenten der Bodenkultur, die ebenfalls im Kloster wohnen. Wie immer an den geistlichen Orten ist das Essen gut, das Tischgespräch heiter und der Schlaf friedlich.
Ostabat, 22. Oktober
In Saint-Palais wachen wir von den Gesängen der Mönche auf. So durchdringend tönen ihre Gebete, als hätten sie sich über Nacht vermehrt. Aber beim Frühstück sind es immer noch nur drei. Der Jüngste unter ihnen, der auch der Oberste zu sein scheint, schreibt uns den Leitspruch der Franziskaner, »Pax et Bonum«, auf Baskisch in unseren Pilgerpass: »Bakea eta zeriona«, wenn ich die Schrift noch richtig entziffern kann. Wir führen ein kleines theologisches Gespräch über Vorsehung und Prädestination. Viele Pilger erzählen dem Pater von wunderlichen Zufällen und beginnen an das Wirken einer geheimnisvollen Macht zu glauben. Er ist demgegenüber skeptisch. Äußert sich Gott so direkt in der Welt? Die Pilger, meint er, lebten zwangsläufig so schicksalsergeben, dass für sie aus einfachen Koinzidenzen kleine Wunder werden.
Er nimmt unsere zweihundert Franc an, nachdem wir ihm versichert haben, dass wir wirklich nicht bedürftig sind und für Essen und Unterkunft zahlen können – »immerhin, Sie sind ja Schriftsteller«, wirft er ein. Er empfiehlt uns, das kleine Museum von Saint-Palais zu besuchen. Es befindet sich neben dem Rathaus und erzählt die Geschichte der Region Navarra sowie der vier großen Jakobspilgerwege. Es ist recht lehrreich. Man sieht zum Beispiel die ausgehöhlte Kürbiskalebasse, die einst allen Pilgern als Trinkflasche diente. (Heute haben die meisten diese Alu-Leichtflaschen des teuren Schweizer Bergsteigerausrüsters.) Das Museum zeigt auch viele Symbole der baskischen Kultur – stilisierte Kreuze, Sonnenräder, Pentagramme. Diese Zeichen werden auch jetzt noch auf Grabsteinen oder als Wegzeichen angebracht. Kein Wunder, dass die Basken so viele Schwierigkeiten haben. So geht es allen Völkern, die das Zaubern noch nicht verlernt haben.
Die heutige Tagesetappe nach Ostabat ist elf Kilometer lang. Zu Hause stellt das einen Sonntagsspaziergang dar, auf den man stolz ist. Hier ist es ein Ruhetag.
In Hiriburia steht ein baskisches Wegkreuz, das »Gibraltar« genannt wird. (»Gibraltar« kommt übrigens vom verballhornten »Salvator« und hat mit der Meerenge nichts zu tun.) Hier treffen die Jakobswege von Le Puy, von Vézelay und von Tours zusammen. Der vierte traditionelle Weg, jener von Arles, wird sich erst bei Puente La Reina mit dem Hauptstrom vereinigen.
Ostabat ist ein verschlafenes, angenehmes Dorf. Wenn man hier im ersten (und einzigen) Café am Platz in den letzten Sonnenstrahlen sitzt, den Schweinen beim Schlafen, den Kühen beim Grasen und den Pyrenäen beim Leuchten zusieht, erfüllt einen tiefer Friede. Kaum zu glauben, dass Ostabat im Mittelalter zu den wichtigsten Pilgerstationen gehörte und in seinen Hospizen bis zu fünftausend Personen aufnehmen konnte. Das alte, »Ospitalia« genannte Haus, das heute als gîte d’étape dient, ist ein kleines Überbleibsel
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