Lesereise - Jakobsweg
Jahre alt, und wir sind uns sicher, dass er auch mit »unlauteren« Mitteln so schnell hierhergekommen ist, denn sonst hätte er an die vierzig Kilometer pro Tag zurücklegen müssen, was, wenn die Tage so kurz sind wie jetzt, fast nicht möglich ist. Charles ist sehr höflich. Er redet ungefähr so: »Liebe Barbara, würde es Sie sehr stören, die große Güte aufbringen zu wollen, mir Ihr Glas zu reichen, auf dass ich Ihnen ein Tröpfchen dieses edlen Göttertrankes, der den klingenden Namen Rioja trägt, nachschenken könnte?« Er meint das keinesfalls ironisch, und es klingt sehr banal, wenn Barbara darauf mit einem gewöhnlichen »bitte sehr« antwortet. Aber wir beherrschen eben die Kunst des französischen Schnörkels (die sich oft in Musik und Architektur und auch in der Küche zeigt) nicht, und wir wollen sie auch gar nicht beherrschen. Charles ist ein französischer Gentleman alter Schule, und so verwundert es auch nicht, wenn seine Kinder und Enkelkinder ihn siezen müssen. »Meine Frau ist schwach geworden, aber ich werde niemals nachgeben. Noch auf dem Totenbett werde ich mich siezen lassen«, erzählt er uns stolz.
Estella, 27. Oktober
Es ist eine kurze und angenehme Etappe heute – zwanzig Kilometer sind zurückzulegen, und der Großteil davon auf netten Feldwegen. Charles hat gebeten, mit uns gehen zu dürfen. Er sieht schlecht aus, dürfte sich überanstrengt haben, und der Gedanke daran, alleine in der Hitze des sonnigen Tages durch diese karge Landschaft zu wandern, war ihm wohl unheimlich.
Also haben wir unseren Schritt verlangsamt und ihn begleitet. Er betet viel beim Gehen, und weil er dadurch unaufmerksam ist, verläuft er sich alle paar Hundert Meter. Was beweist, dass einen, entgegen der landläufigen Meinung, auch Gebete vom rechten Weg abbringen können.
Hier in Spanien liegen öfter Orte auf unserem Weg als in Frankreich. Meist sieht man sie schon von Weitem. Das hilft, den Schritt zu beschleunigen. Es ist angenehm, auf diese Zwischenziele zuzugehen. Sie motivieren einen weiterzumachen, obwohl das hohe Ziel, Santiago, noch so weit entfernt ist.
Abends im schönen, neuen refugio von Estella finden wir endlich wieder Nachricht von einem »Bekannten«: Marco ist zu seinem lakonischen »Pax et Bonum« zurückgekehrt. Von Ursula gibt es keine Spur. Ob sie aufgegeben hat?
Das refugio hier ist zwar sehr groß und sauber, aber, wie immer in den spanischen Städten, die Regeln sind eisern. Um 22 Uhr wird man eingesperrt, um acht erst wieder freigelassen. Dazwischen ist man sozusagen in »Schutzhaft«, damit man nicht von Dieben, Terroristen oder Obdachlosen heimgesucht wird. Ich weiß, dass es gut gemeint ist, aber ich mag das Gefühl trotzdem nicht sehr. (Im Sommer sind die Öffnungszeiten andere; da verlässt man das refugio üblicherweise gegen sechs Uhr früh, um noch vor der schlimmsten Nachmittagshitze am Ziel der Etappe zu sein.)
Charles lässt es sich nicht nehmen, uns bei unserem kleinen Stadtrundgang zu begleiten. Estella ist sogar einen größeren Rundgang wert. Der Ort hat Charme, es gibt einen romanischen Königspalast, die spätromanische Kirche San Pedro de la Rúa sowie die Iglesia de San Miguel, deren Altar sagenhaft prunküberladen im Scheinwerferlicht gleißt. Das ist sogar Charles zu viel: »Seht euch das an«, sagt er schnaufend, »all dieses Gold und Silber, und um welchen Preis es hierher geschafft wurde! Man könnte die ganze Kirche auch mit Blut anfüllen.«
Los Arcos, 28. Oktober
Heute war ein schöner, angenehmer Tag. Nach Estella teilt sich der Weg in zwei, und es ist sehr empfehlenswert, nach Irache zu gehen. Dort gibt es nicht nur ein wundervolles Kloster mit Kirche, beides vom morbiden Charme des langsam Verfallenden umgeben, sondern auch eine Weinkellerei, die eine Weinquelle für Pilger eröffnet hat. Aus einer Mauer kommen zwei Zapfhähne – einer für Wasser, einer für Rotwein. Die Pilger, die vorbeikommen, können nach ihren Bedürfnissen ein paar Schluck davon in ihre Trinkflasche füllen. Das ist sehr nett von den »Bodegas Irache« – und nebenbei auch ein guter PR -Gag, denn der Weinzapfhahn (mit Firmennamen) zählt neben der Kathedrale von Santiago zu den meistfotografierten Motiven auf dem Jakobsweg.
Neben der Rotweinquelle hat Charles schon auf uns gewartet. Heute sind wir allerdings unseren eigenen Rhythmus gegangen, waren schneller als Charles, haben uns aber öfters umgedreht, um zu sehen, ob er auch wirklich nachkommt. Denn heute gab es
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