Lesereise - Jakobsweg
100 km/h bei null Prozent Luftfeuchtigkeit entgegenweht.
Roncesvalles ist eigenartig. Es besteht aus einem Kloster und zwei Gasthäusern, die, soweit wir das richtig verstanden haben, ebenfalls zum Kloster gehören. Roncesvalles gleicht einer Festung: düster, kalt, mächtig, steinern. Das Kloster wurde 1132 vom Bischof von Pamplona gegründet, der Mitleid mit den armen Pilgern hatte, die massenweise in den Pyrenäen erfroren und/oder von Wölfen gefressen wurden. In Roncesvalles durften sich die mittelalterlichen Pilger drei Tage lang aufhalten. Sie bekamen Speis und Trank, ein Bett, ein Bad, und, falls sie trotzdem starben, ein christliches Begräbnis. Ganz in der Nähe des Klosters wurde ein großes Pilgergrab gefunden, von dem die Legende behauptet, es wäre das Grab Rolands, des sagenhaften Neffen Karls des Großen, der hier im Jahr 778 von den Basken geschlagen wurde. Aber mittlerweile zweifeln manche Historiker daran, dass es Karl den Großen überhaupt gegeben hat, geschweige denn seinen Neffen Roland, weshalb man alles, was einem gebildete Leute auf dem Weg erzählen, eher als Geschichten denn als Geschichte betrachten sollte.
Heute kommen fast wieder so viele Pilger nach Roncesvalles wie in der mittelalterlichen Hochblüte des Jakobswegs. Dementsprechend unpersönlich ist auch der Empfang durch einen kafkaesken Beamten. Er bittet uns in sein Zimmer. Vor dem Schreibtisch, in gebührender Distanz, müssen wir Platz nehmen. Er sieht uns streng an, überprüft genau unsere französische Stempelsammlung. Fällt es auf, dass wir einmal den Bus genommen haben? Nein, es fällt nicht auf. Wir bekommen unser credencial, nachdem wir Name, Geburtsdatum und Beruf angegeben haben. Dann versucht der gestrenge Herr noch, uns etwas auf Spanisch zu erklären. Wir verstehen ihn leider nicht. Schließlich deutet er uns: Um 22 Uhr haben wir im refugio zu sein, denn dann wird es geschlossen. Und um acht Uhr müssen wir draußen sein. Okay? Okay. So läuft das also hier.
Im eisigkalten Matratzenlager treffen wir Charles wieder, den älteren französischen Herrn, den wir bei Madame Débril kennengelernt haben. Er überredet uns, in die Messe zu gehen, denn eigentlich sei das in Roncesvalles doch verpflichtend. Außerdem hätte er so gerne den Pilgersegen, den man vom Pfarrer bekommt. Auch Bernard, ein zweiter Franzose, stimmt dem zu. So werden wir gleich am ersten Tag mit dem spanischen Katholizismus konfrontiert: bis auf die letzte Bank gefüllte Kirchen; dröhnende Gesänge; bunte Gewänder, große Gesten; naturalistische Jesus-Statuen mit viel Blut und extragroßen Nägeln; Weihrauch noch und noch; Gold und Silber und prunkvoll überladene Kirchen – für einen protestantisch erzogenen Menschen eine ziemliche Herausforderung. Noch dazu bringen uns unsere französischen Freunde in Verlegenheit: Der Priester bittet nach der Messe zunächst auf Spanisch und dann auf Englisch die Pilger zu sich an den Altar. Da unsere beiden Herren wie fast alle Franzosen weder Spanisch noch Englisch (noch sonst eine Fremdsprache) sprechen, müssen wir ihnen zeigen, dass sie an den Altar sollen … Und sind dadurch mitgefangen. Sekunden später bin ich in einer Situation, die ich bis vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten hätte: Ich knie vor einem spanischen Priester, der mir in arabisch klingendem Englisch aufträgt: »Gohooo wis Gohoood and prrray for us in Compostelle.«
Auch später endet der Stress nicht. Wir sollen zwar schon um 22 Uhr wieder im refugio sein, doch bekommen wir erst ab 21 Uhr das Abendessen. Da heißt es schnell reinfuttern. Ein kleines Gespräch geht sich dennoch aus. Charles stammt aus der Normandie und geht nur zehn Tage lang Richtung Santiago. Und Bernard ist heuer bereits das dritte Mal unterwegs. Er ist ein seltsamer Kauz, fünfzig Jahre alt, Medien- und PR -Berater von großen Firmen. Jetzt schreibt er gerade ein Buch, und zwar über die »Engel der Kabbala«, die sich massenweise auf dem Jakobsweg befänden. Wir bitten ihn um nähere Erklärungen, aber er kann oder will sie uns nicht geben. Bernard war das erste Mal auf eine Wette hin in Santiago. Im Rausch, so erzählt er, habe er mit Freunden gewettet, er könne ohne Geld von Paris nach Santiago kommen. Tatsächlich ist er mit fünfhundert Franc losgezogen und mit dreihundert Franc wieder zurückgekommen. Er hat für den Hin- und Rückweg 14 Tage gebraucht. Am meisten haben ihn auf seiner »Autostopp-Pilgerfahrt« portugiesische Lastwagenfahrer
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