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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Freund
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bereits einen kleinen Vorgeschmack auf die wüstenartige Meseta: die Durchquerung eines kargen, weiten Landstrichs, ohne Brunnen, ohne Dorf. Ich muss an die Worte meines Großvaters denken: »Sehr viel Gegend hier.« Genau so war es und dazu glühend heiß, erstaunlich für Ende Oktober. Man merkt, dass Charles normalerweise von seinen »Domestiken« (wie er sagt) oder von seiner Frau behütet wird. Er trägt eine Velourshose, ein Unterhemd, ein T-Shirt, ein Flanellhemd und eine Jacke. Er schwitzt derartig, dass ihm das Wasser von der Nase rinnt. Als wir sagen, er solle doch seine Jacke ausziehen, ist er von dieser genialen Eingebung so begeistert, als hätten wir soeben das Rad erfunden.
    Auch zu Mittag müssen wir ihn retten: In seiner Trinkflasche hat er Milch, die bekanntlich kein Durstlöscher ist, sondern Kraftnahrung für Kälber; und statt anständiger Nahrungsmittel schleppt er kiloweise Schoko-Karamel-Riegel und andere Plombenzieher mit sich herum. Wir haben vorsorglich in Irache eine kleine Flasche mit Wein gefüllt, beim frühgotischen Brunnen »Fuente de los Moros« bei Villamayor eine große mit Wasser, worüber Charles sehr froh ist. Wir versorgen ihn also mit Wasser, Wein, Brot, Käse, Serrano-Schinken und Chorizo-Würsten. Er verspricht uns zum Dank, uns in seine Gebete einzuschließen, und, was (buchstäblich!) schwerer wiegt, er schenkt uns eine kleine Flasche Cognac, die wir in Santiago auf sein Wohl trinken sollen.
    Am Nachmittag machen wir uns fast Sorgen um Charles, zumal er Probleme mit dem Blutdruck und dem Herzen hat. Doch wir wollen in unserem eigenen Rhythmus gehen; schauen zwar immer wieder, ob er nachkommt, aber plötzlich ist er weg. Als wir schon beginnen, uns Gedanken zu machen, überholt er uns als Lenker eines Traktors, huldvoll winkend. Ein Bauer hat sich am Weg seiner erbarmt, sich selbst auf den Kotflügel gehockt und dem Gast den einzigen Sitz überlassen.
    Los Arcos kommt uns unscheinbar vor, aber nicht unsympathisch. Das offizielle refugio hat Ende Oktober bereits geschlossen. Unser Quartier hier ist eine einzigartige Mischung aus Pilgerherberge, Schweinestall, Privatzimmer und Gärtnerei. Aber man darf kommen und gehen, wann man will.
    Unser Tagesrhythmus hat sich mittlerweile folgendermaßen eingependelt: Gegen acht Uhr Frühstück. Zwischen acht (da wird es hell) und neun gehen wir los – meist sehr schnell, weil es kalt ist. Da reden wir auch ziemlich viel – zum Beispiel über die Schmerzen, die uns plagen (Tagesbulletin), über die nächste Etappe, über Anrufe zu Hause … Gegen zehn Uhr trinken wir entweder einen Kaffee, wenn es einen Ort gibt, oder wir essen irgendwo eine Banane. Dann gehen wir wieder, und zwischen zwölf und ein Uhr legen wir die Mittagspause ein – bei Regen, wenn möglich, in einem Ort, am liebsten aber im Freien. Danach gehen wir deutlich langsamer, meist hintereinander, meist schweigend. Siesta des Pilgers. Die Gedanken ruhen oder schweifen. Es fällt uns jedenfalls beiden schwer, Themen richtig durchzudenken. Was sich im Kopf abspielt, ist eher ein Trailer verschiedener Filme; diffuse Tagträume, meistens angenehm, meistens zwecklos. Gibt es einen Nachmittagsort, gibt es auch einen Nachmittagskaffee. Nach der Ankunft »beziehen« wir das refugio , kaufen ein, kochen eine Kleinigkeit oder gehen in eines der Lokale Tapas essen. Reden, lesen, schreiben, schlafen. Gerne lesen wir in den Bars auch spanische Zeitungen, die versteht man besser als die schnell gesprochene Sprache. Der Wetterbericht für morgen klingt allerdings nicht sehr ermutigend. Er sagt uns »precipitationes debiles« voraus. Das heißt aber nicht, dass es morgen regnet wie blöd, sondern: »schwacher Niederschlag«.
Logroño, 29. Oktober
    Unser Abendessen gestern in Los Arcos war ziemlich slapstickartig. Jeder, der die Serie »Fawlty Towers« mit John Cleese kennt, kann sich ein ungefähres Bild davon machen, wie es war. Der Koch musste erst geweckt werden. Er war nicht nur verschlafen, sondern offensichtlich auch verkatert. Da der Kellner aber nicht zum Abenddienst erschien, musste der arme Teufel auch noch servieren. Die Tische vom Vortag waren auch noch nicht abgeräumt: Wir saßen also zu dritt in einem Trümmerhaufen, und hin und wieder stellte uns der Koch, der eine abenteuerlich schmutzige Schürze trug, Bestandteile eines Überraschungsmenüs auf den Tisch, das er aus den Resten zusammengestellt haben dürfte, die er im Kühlschrank vorgefunden hatte – ein paar

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