Lesereise New York
Halt- und Orientierungslosigkeit.
Ich frage O’Neill, ob für ihn das Chelsea eine Metapher für die Welt nach dem 11. September ist. Der sonst so eloquente Erzähler streicht sich durch den Zehntagebart, lässt den Blick durch den Raum wandern und gibt dann eine ausweichende Antwort. »Es war eine rein instinktive Entscheidung, meinen Helden dort wohnen zu lassen, er musste ja irgendwo wohnen.«
Lieber redet O’Neill davon, was das Chelsea für ihn persönlich bedeutet hat. Wie es von einem Ort, an den man geht, weil man nirgendwo anders hingehen kann, zur Heimat geworden ist, »einer Heimat, die mehr Heimat ist als alles, was ich bisher kannte«. Wie für ihn das Chelsea die Dinge verkörpert, die das Leben in einer Großstadt ausmachen: »Das Chelsea ist ein verdichtetes Modell der urbanen Erfahrung. Es ist unvorhersehbar und überraschend, man wusste im Chelsea nie, was einem begegnen würde, wenn man auf den Gang trat. Und gleichzeitig war es einladend. Es hieß jeden willkommen, egal woher er kam, so wie die moderne Stadt jeden aufnimmt.«
Natürlich passt dieses Bild des Chelsea auch bestens auf die Zeit nach dem 11. September und O’Neill weiß das genau, auch wenn er sich dagegen sträubt, sein eigenes Werk zu deuten. Es war eine Ära, in der viele Menschen den Boden unter den Füßen verloren hatten und sich in einer neuen Welt einrichten mussten, in der es nichts Vertrautes mehr gibt; und es war zugleich eine Gelegenheit, neue Welten zu entdecken und vor allem auch einander.
Doch das ist nun alles Vergangenheit, in New York geht alles wieder seinen unbeirrbaren kapitalistischen Gang. Auch O’Neills glückliche Zeit im Chelsea ist vorbei, eine Zeit, in der er zwei Kinder gezeugt und zwei Romane geschrieben hat. »Seitdem sie Stanley rausgeschmissen haben, ist das Chelsea tot«, sagt er unsentimental und dezidiert. »Stanley war das Herz des Chelsea und wenn man aus einem Organismus das Herz herausreißt, dann kann er nicht mehr lange überleben.« Sich dagegen zu stemmen, so wie Arthur und die anderen, hält er für müßig. Es bedeutet, sich gegen den Lauf der Welt zu stemmen.
Als ich eine Woche später noch einmal an die 23rd Street fahre, ist dem Organismus des Hotels die Fäulnis schon sichtbar in die Glieder gekrochen. Die Pink Lady schaukelt nun einsam durch die Lobby, die übrigen Kunstwerke sind von den neuen Besitzern abmontiert worden. Auch die Gänge in den zehn Stockwerken, die wie Balkone über dem zentralen, lichtdurchfluteten Treppenhaus hängen, sind kahl. Die Werke, die über Jahrzehnte von den Bewohnern hier hinterlassen wurden, sind verschwunden, niemand weiß, wohin. Nur unter dem Glasdach baumelt noch ein riesiges Mobile von Arthur Weinstein, das aus Künstlerporträts besteht, darunter Joseph Beuys und Klaus Kinski, Ikonen der siebziger Jahre.
Viele der Glasschwingtüren, die zu den Seitenflügeln führen, sind eingeschlagen. Bei den Endzeitpartys, die nach dem Verkauf am letzten Wochenende hier stattgefunden haben, ist es, wie man hört, hoch hergegangen. Die Dachterrasse mit ihren verwinkelten kleinen Parzellen zwischen den verwitterten Giebeln und Türmchen ist mit zerbrochenen Stühlen und Tischen übersät. Aus den Blumenkästen kriecht vertrocknetes Gestrüpp.
Wir klopfen an der Nummer 222 bei Man Lai, einer Halbfranzösin, Halbchinesin, die seit mehr als dreißig Jahren im Chelsea lebt. Ihre Wohnung ist riesig, zwei Schlafzimmer, zwei Bäder, ein Salon und ein Balkon zur 23rd hinaus, direkt neben den Neonlettern mit dem Hotelnamen, die vertikal die Fassade hinunterklettern. Man bekommt einen Eindruck davon, wie das Chelsea zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen sein muss, als es auf den zehn Stockwerken verteilt nur zwölf Wohnungen gab.
Es ist schwer für Man Lai, sich nicht aufzuregen, wenn sie von den Ereignissen der vergangenen Woche redet. Zuerst, sagt sie und ihre Stimme überschlägt sich fast dabei, habe sie gar nicht wahrhaben wollen, was da passiert. Der alte Portier Jerry, der schon so lange im Hotel ist wie sie, hatte sie schon vor Wochen gefragt, ob sie ihm nicht ein Empfehlungsschreiben geben könne. Sie habe gerne ja gesagt, aber dabei nicht zwei und zwei zusammengezählt.
Selbst an dem Morgen, an dem es geschah, fiel bei ihr noch nicht der Groschen. »Ich bin morgens aus dem Haus gegangen und habe nur gedacht, was wollen denn die ganzen Reporter da? Wahrscheinlich warten die auf irgendeinen Prominenten.« Als sie abends zurückkam, war dann schon
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