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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Noll
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alles vorbei. »Alle waren weg, Jerry und die anderen, man konnte sich nicht einmal mehr verabschieden.« Man Lai brauchte erst einmal einen Drink, sie ging nebenan in die El Quijote Bar, wo schon andere Mieter über ihren Margaritas saßen. »Als uns allen klar wurde, was das bedeutet, sind einige Tränen geflossen.«
    Man Lai ist in den siebziger Jahren als junges Model aus Europa nach New York gekommen. Sie hatte keine Papiere und kein Geld, dafür umso mehr Ambition und Lebenslust auf New York. Stanley Bard mochte sie auf Anhieb und gab ihr ein Zimmer.
    Über die Jahre wandelte Man Lai ihre Laufbahn in einen Job als Stylistin und Eventplanerin um. Sie bekam Zwillinge, die beide im Chelsea aufgewachsen sind. Vierundzwanzig Jahre ist das her. »Meine Mädels erkennen eine Transe aus hundert Metern Entfernung«, scherzt sie darüber, wie das Chelsea ihre Töchter geprägt hat.
    Trotz der Verrückten und der Drogenpartys ist Man Lai davon überzeugt, dass das Chelsea der perfekte Ort war, um Kinder großzuziehen. »Es ist eine Familie, es ist ein Dorf. Jeder hier kümmert sich um jeden, ich konnte meine girls immer bedenkenlos im Haus herumstreunen lassen.« Die vermeintlich Asozialen stellten sich als überaus fürsorglich heraus.
    Einen Mietvertrag hat Man Lai allerdings nie bekommen. Darüber, wie viel sie bezahlt, redet sie nicht. »Einmal hat Stanley mir gesagt, dass er mehr Geld haben will«, erinnert sie sich. Vor fünfzehn Jahren war das. »Ich habe einfach nein gesagt.« Danach habe er es zwar noch einmal versucht, doch irgendwann sei das Thema dann wieder versandet.
    Jetzt wartet Man Lai wie die anderen bange darauf, zu erfahren, was der neue Besitzer wohl vorhat. Doch bisher hält er still und lässt die Mieter zappeln. Man sieht nichts von ihm und hört nichts von ihm, er ist wie ein Gespenst.
    Der New York Observer hat herausbekommen, dass es sich bei dem Käufer um Joseph Chetrit handelt, einen der reichsten Männer im amerikanischen Immobiliengeschäft. Der frühere Sears Tower in Chicago gehört ihm, der höchste Wolkenkratzer der USA , und auch eine ganze Reihe prestigeträchtiger Objekte in New York. Klar ist vor allem eines – Chetrit hat einen langen Atem und tiefe Taschen und ein unmissverständliches Profitinteresse.
    Draußen auf der 23rd Street dämmert es mittlerweile. Durch Man Lais Fenster schimmert das Empire State Building, dessen Krone wie an jedem Abend mit bunten Scheinwerfern angestrahlt wird. Der Neonschriftzug neben ihrem Fenster bleibt hingegen wie schon seit Tagen dunkel.
    Was würde Man Lai denn machen, wenn sie aus dem Chelsea hinaus müsste, frage ich sie. »Keine Ahnung«, zuckt sie mit den Schultern. »Ich wollte eigentlich hierbleiben, bis sie mich raustragen.« Und wenn es doch hart auf hart kommt? »Dann gehe ich zurück nach Europa.«
    Anderswo in New York als im Chelsea zu leben – ein solcher Gedanke ergibt für Man Lai keinen Sinn.

Ein Mann namens Pferd
Unterwegs mit dem schnellsten Radkurier von New York
    Ich schaue dem Mann, den sie Pferd nennen, für einen Augenblick über die Schulter und am liebsten würde ich jetzt laut »Scheiße« schreien. Das Display auf meinem Fahrradtacho kratzt an den fünfundvierzig Stundenkilometern, mein Puls hämmert gegen meine Schläfe und mein Vordermann, dessen Pass tatsächlich auf Austin Horse lautet, rast frontal auf eine Lücke zwischen einem Stadtbus und einem Taxi zu, die sich rapide schließt.
    Niemals würde ich so durch Manhattan fahren, doch Horse ist der beste Kurier der Stadt, Weltmeister der Fahrradboten, und ich hoffe darauf, dass ich das alles schon irgendwie überleben werde, wenn ich nur das Gleiche mache wie er. Auch wenn ich weiß, dass das vermutlich nicht sehr vernünftig ist.
    Austin bremst nicht, das kann er auch gar nicht, denn sein Eingangrad hat gar keine Bremsen. Stattdessen legt er einen Zahn zu, erhöht seine Schlagzahl auf hundertzwanzig Pedalumdrehungen in der Minute. Die Kurbel des Gefährts wirbelt nun wie die Rotorblätter eines Hubschraubers, in denen die Strahlen der New Yorker Frühsommersonne tanzen. Während er mit höchstens fünf Zentimetern Platz rechts und links zwischen den Fahrzeugen hindurchschlüpft, tatscht er sanft auf die Kühlerhaube des Taxis, so, als könnte er den Wagen wegstupsen. Und tatsächlich, der Pakistani am Steuer versteht das Zeichen, korrigiert seine Linie und gibt mir gerade genug Raum, damit meine Pedale nicht den Lack seiner Beifahrertür zerschrammen.
    Es ist

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