Lesereise New York
seine Route neu. Nur im äußersten Notfall kommt er komplett zum Stand, doch auch dann setzt er niemals seine Zehenspitze auf den Asphalt. Stattdessen bleibt er wie ein Bahnsprinter auf den Pedalen stehen und lauert, bis sich die nächste winzige Lücke auftut, durch die er dann hindurchschießen kann.
Wenn Austin Horse versucht, seine Kunst zu erklären, dann spricht er gerne vom flow der Großstadt, davon, dass der Verkehr von Manhattan seinen eigenen Rhythmus hat und dass man ihn in sich aufsaugen muss, um in ihm zu bestehen – so, wie ein Surfer die Energie einer Welle in sich aufnimmt. »Man darf sich nicht gegen den flow stemmen«, sagt er. »Man muss ihn lesen, ihn fühlen, ihn benutzen.«
Wenn er diese Welle erwischt, erklärt Horse, dann kann das ein einmaliges high sein, ein unglaublicher Kick. Er fühle sich dann wie der König der Stadt. »Ich sehe dann nur die Leute, die in ihren Autos sitzen und nicht vorankommen und nicht wissen warum, während ich mich mit fünfzig Sachen durch New York bewege, gerade so, wie ich es will. Ich bin vollkommen in Kontrolle, wie bei einem Videospiel, wo ich zwischen Feinden, die auf mich schießen, hindurchschlüpfe.«
Natürlich ist das eine Gratwanderung, ein Tanz auf dem Vulkan. Die Welle kann in jedem Augenblick über einem zusammenbrechen. Erst vor ein paar Wochen ist Austin von einem Taxifahrer von seinem Rad geholt worden, der dann auch noch über seinen Knöchel gerollt ist. Wie durch ein Wunder ist Horse unverletzt geblieben. Ein Kollege von seiner Firma Samurai Messengers hat nicht so viel Glück gehabt. Er ist auf dem Nachhauseweg vom Abendessen nach seiner Schicht angefahren worden. Gebrochenes Handgelenk. Sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit. Eine Katastrophe.
In solchen Augenblicken wird selbst Austin daran erinnert, dass das Radkurierfahren in New York nicht nur Actionsport ist, sondern vor allem auch ein Knochenjob. Rund zweihundert Dollar pro Schicht nimmt er mit nach Hause, nach acht Stunden, in denen er seinen Hals riskiert hat; nach bis zu hundertfünfzig Radkilometern in den Abgasen der Stadt, bei Sonne, Regen, Schnee oder Eis.
Es ist nicht die einfachste Art, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und Austin wünscht sich bisweilen, dass er eine Alternative dazu hätte. »Ich liebe mein Leben als Kurier«, sagt er. »Aber manchmal wäre ich froh, wenn ich noch andere Optionen hätte.« Jetzt, mit achtundzwanzig, sei das zwar noch kein drängendes Thema, aber ob er das mit fünfzig noch machen will, da ist Horse sich nicht sicher. Doch den Gedanken schiebt er lieber noch ein wenig vor sich her.
In das Gewerbe hineingerutscht ist Austin Horse alleine, weil er noch nie etwas lieber tat, als Fahrrad zu fahren. Als Jugendlicher in einem Vorort von Houston in Texas entdeckte er seine Liebe zum Rad und fing an, Mountainbike-Rennen zu fahren. Doch der Ölstaat Texas war keine Gegend, in der das Radfahren einen fruchtbaren Nährboden hatte. Die Szene war klein und isoliert. So zog er, sobald er die Highschool abgeschlossen hatte, nach Portland im Staat Oregon, der fahrradfreundlichsten Stadt der USA , wo dreißig Prozent aller Fahrten per Drahtesel erledigt werden und wo die Dutzenden Fahrradschmieden einer der stärksten Wirtschaftsfaktoren sind.
Horse begann dort ein Studium, in der Hauptsache arbeitete er jedoch schon als Kurier und fuhr nebenbei Rennen. Bald musste er sich eingestehen, dass das Studium nur noch eine Fassade war und dass er in Wirklichkeit längst zu einem Vollblutkurier geworden war. Und so entschloss er sich, zu dieser Identität zu stehen und nach New York zu gehen – in das Zentrum der Radkurierkultur, dort, wo in den siebziger Jahren alles angefangen hatte.
Damals wurde das noch junge Radkuriergewerbe von Fahrern aus der Karibik dominiert, bettelarme Rastafarians von den Inseln, die es gewohnt waren, knochenhart für ihr Geld zu arbeiten. Sie erfanden diese single speed bikes für den Straßenverkehr aus reiner Not – sie hatten kein Geld für richtige Fahrräder und schraubten sich Schrottteile zusammen, die sie auf der Straße fanden. Ein Rahmen, zwei Räder, Pedale, ein Lenker, ein Sattel – mehr brauchten sie nicht.
Auf diesen Gefährten bewegten sie sich jedoch derart behände durch den New Yorker Verkehr, dass sie bald Nachahmer fanden. Es wurde cool, wie die Jamaikaner auf rostigen single speeds durch New York zu jagen. Sogar eine eigene Szene von Underground-Rennen entwickelte sich, die sogenannten »Alley Cat
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