Lesereise New York
Races«. Dabei müssen die Teilnehmer wie bei einer Schnitzeljagd ein Dutzend Punkte in der Stadt ansteuern – wie sie die Punkte verbinden, ist ihnen überlassen. Gefragt sind die Kuriertugenden Straßenkenntnis, Orientierung, Geschwindigkeit und maximale Risikobereitschaft. Bei den anschließenden Dosenbierbesäufnissen wird unter anderem der spektakulärste Sturz gefeiert. Für viele Teilnehmer enden die Rennen im Krankenhaus.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist diese Subkultur immer stärker in den Mainstream geschwappt. Unter den Hipstern von der Lower East Side und Williamsburgs ist ein single-speed obligatorisches Modeaccessoire. Echte Kuriere wie Horse sehen das mit gemischten Gefühlen. Leute, die das Gerät nicht beherrschen, möchten sie lieber nicht auf den Straßen von New York sehen und das Nachahmen ihres Berufs ohne dessen Härten einstecken zu müssen, finden sie bisweilen lächerlich. Andererseits beschert Horse, der heute die »Alley Cats« ebenso dominiert wie die offiziellen Kurierrennen auf abgesperrtem Kurs, die breite Popularität der Kurierkultur einen gewissen Star-Status. Wenn Kuriere für TV -Serien oder Filme gebraucht werden, wird Horse für die Stunts angeheuert. Sogar einen Sponsor hat er, der ihm Rad und Ausrüstung zahlt. Doch ohne die tägliche Mühe des Kurierjobs kommt Horse noch immer nicht aus.
Der Startschuss zu seinem Arbeitstag fällt, sobald er sich mit seinem Smartphone bei seiner Zentrale einloggt. Ein paar Minuten später kommt dann die SMS mit dem ersten Auftrag.
Heute fängt der Tag gleich mit Hochdruck an. »Ein triple «, sagt Austin trocken, während er am Küchentisch seiner WG in Brooklyn noch seinen Kaffee schlürft. Triple ist Branchencode für höchste Dringlichkeitsstufe, eiligste Terminsache. Innerhalb von weniger als zwei Minuten hat er seinen Dreißig-Liter-Rucksack auf dem Rücken, seinen Gurt mit Fahrradschloss, Ersatzreifen und Werkzeug umgeschnallt und schnappt sich eines der etwa fünfzehn Räder, die in einem zur Werkstatt umfunktionierten Raum im Erdgeschoss des Hauses direkt unterhalb der Williamsburg Bridge an der Wand hängen.
Die nächste Viertelstunde ist ein einziger langer Sprint. Vollgas über die Brücke, wo unmittelbar neben dem Radweg die U-Bahn ohrenbetäubend entlangdonnert, quer durch Chinatown, links, rechts durch Straßen, deren Schilder zu schnell vorbeifliegen, um die Namen zu lesen. Vor dem Büro einer Werbeagentur in einem alten umgebauten Kaufmannskontor an der Prince Street hüpft Austin dann noch im Fahren von seinem Rad, zückt in einer Bewegung sein Schloss aus dem Gürtel, bindet sein vier Kilo leichtes Arbeitsgerät an ein Straßenschild und verschwindet in einem Aufzug.
Mein Herzschlag hat sich von der Hatz noch nicht wieder beruhigt, da kommt Horse aus dem Gebäude, schnappt sich sein Rad und springt wie ein Rodeoreiter aus vollem Lauf in den Sattel. »26th und Park«, ruft er mir noch zu, falls wir uns verlieren, und tatsächlich ist er keine zehn Blocks weiter nördlich zwischen den Taxis entschlüpft. Meine Beine brennen und der Mut sinkt, dabei hat Austins Schicht gerade erst angefangen.
Doch auch das gibt es. Nach einer guten Stunde ist Austin an der 34th Street gestrandet. Sein letzter Job hat ihn in ein Gebiet gebracht, in dem schon drei andere Kollegen unterwegs sind, das Revier ist überfüllt. Nach zwanzig Minuten des Herumlungerns auf dem Bürgersteig mit Kollegen, die gerade in der Gegend sind, entschließt er sich, in eine Espressobar zu gehen.
Und natürlich kommt die nächste SMS aus der Zentrale genau in dem Augenblick, in dem Horse sich gerade den Zucker in sein Getränk rühren will. Wieder ein triple . Vorsichtshalber hat er sich schon einen Pappbecher geben lassen. Er stülpt einen Deckel darüber und bevor sein Begleiter es sich versehen kann, sitzt er wieder im Sattel, Kaffee in der Hand, im Gegenverkehr zwischen hupenden Autos hindurch die Fifth Avenue hinaufstrampelnd.
Gleich vier Päckchen gibt es jetzt abzuholen bei einer PR -Agentur an der Madison Avenue. Während Austin die Päckchen in seinen Rucksack stopft, kalkuliert er die Route, rechnet aus, wie er die vier Punkte am effizientesten verbindet. Times Square. Columbus Circle. Union Square. Chelsea. Immer am Anschlag, immer im flow .
Irgendwo auf der Sixth Avenue verliere ich ihn wieder und bin darüber letztlich gar nicht so arg böse. Das Spiel mit dem plötzlichen Verkehrstod zerrt an den Nerven und das mörderische Tempo lässt
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