Lesereise New York
eine Kamikazemission, zu versuchen, das Hinterrad von Horse zu halten, selbst für erfahrene New Yorker Fahrradpendler. Auf zwei Kilometern Broadway, der Durchschnittsentfernung einer Lieferung, lauert mindestens ein halbes Dutzend Mal der Tod. Eine Autotür öffnet sich plötzlich rechts. Ein Lieferwagen überholt links und schneidet dir mit einem abrupten Rechtsschwenk den Weg ab. Der Verkehr rauscht im Zentimeterabstand an deiner Schulter vorbei und plötzlich tut sich vor deinem Vorderrad ein dreißig Zentimeter tiefes Schlagloch auf. Oder ein Fußgänger springt, das Handy am Ohr, unvermittelt zwischen zwei Autos hervor auf die Straße.
Der New Yorker Verkehr ist für Radfahrer noch immer die Hölle, eine zutiefst feindliche Umgebung, auch wenn Bürgermeister Bloomberg sich alle Mühe gibt, die Stadt fahrradfreundlicher zu machen. Hunderte von Kilometern an Fahrradwegen hat er in den vergangenen Jahren anlegen lassen und ab Sommer 2013 sogar ein Mietradprogramm geplant. Und tatsächlich pendeln mittlerweile mehr als eine Viertelmillion New Yorker täglich mit dem Rad zur Arbeit. Doch es ist noch immer ein halsbrecherisches Unterfangen. Fünftausend Radler werden jährlich verletzt, dreizehn kamen im Jahr 2010 zu Tode.
New York ist nun einmal nicht Kopenhagen oder Amsterdam, so gerne die ehrgeizige Verkehrsdezernentin Janette Sadik-Khan Manhattan auch diesen Städten angleichen möchte. Das, was den Puls von New York ausmacht, die extreme Dichte, verwandelt die Straßen in ein anarchisches Chaos. Jeder Zentimeter Asphalt ist hier so umkämpft wie der Gazastreifen, von Taxis, Fußgängern, Bussen, Skateboardern, und niemand überlässt freiwillig jemand anderem den Vortritt. Zivilisiertes Radeln im westeuropäischen Stil, in gemäßigtem Tempo und unter Beachtung der Verkehrsregeln, ist in Manhattan nicht möglich. Man würde an den Rand gedrängt, von der Verkehrswelle gnadenlos überrollt werden.
Doch Austin Horse ist ein anderes Wesen als wir Durchschnittsradler. Er ist perfekt an diese Umwelt angepasst, sie ist sein Biotop. Das fängt bei seinem Fahrrad an. Es ist ein Spezialrad aus einer Werkstatt in Brooklyn, bis ins Detail den Bedürfnissen des Straßenkriegers angepasst. Das Rad weist keines der Accessoires auf, die bei gewöhnlichen Rädern als Standard gelten. Gangschaltung? Fehlanzeige. Schließlich ist Manhattan topfeben und Komponenten wie Schalthebel, Umwerfer, Schaltzüge oder Zahnkränze verschleißen viel zu leicht, als dass sie den Belastungen von sechs wöchentlichen Achtstundenschichten in New York bei Wind und Wetter standhalten würden. Das ständige Erneuern der Teile wäre für einen Kurier viel zu teuer.
Bremsen? Ebenfalls Fehlanzeige, obwohl man eigentlich meinen müsste, dass sie im New Yorker Verkehr ein überlebensnotwendiges Utensil sind. Doch Horse und seine Kollegen sparen sich das Gewicht auch dieser Verschleißteile.
Anstatt auf herkömmliche Weise ihr Rad mit Gummibacken anzuhalten, die sich in die Felge beißen, verlangsamen New Yorker Radkuriere ihr Arbeitsgerät mit der gleichen Bewegung, mit der sie es beschleunigen. Ihre Bikes haben keinen Freilauf, das bedeutet, dass die Pedale sich immer mitdrehen, wenn die Räder sich drehen. Zur Entschleunigung stemmt man sich dem Druck der Pedale entgegen. Abruptes Halten ist praktisch nicht möglich. Für den Notfall beherrschen diese Männer jedoch ein Manöver, das man lieber nicht ausprobieren sollte, wenn man kein artistisches Talent hat: Das Hinterrad wird blockiert und bricht zur Seite aus, das Fahrrad dreht sich einmal um sich selbst und kommt quietschend zum Stillstand. Nicht selten malt der Gummiabrieb des Hinterrads dabei einen schwarzen Halbkreis auf die Straße.
Im Idealfall passiert das jedoch niemals. Die Kunst des Überlebens im Verkehr von New York besteht darin, immer in Bewegung zu bleiben. Austin Horse hat diese Kunst perfektioniert, deshalb ist er der Beste seiner Zunft.
Wenn er auf eine Kreuzung in Midtown Manhattan zusteuert und die Ampel rot wird, dann stemmt er sich für drei Tritte gegen sein Pedal, um etwas Speed rauszunehmen und einen Einblick zu bekommen, was von links oder rechts kommt. Verlangsamen heißt dabei, das Tempo auf vielleicht nur fünfzehn Stundenkilometer zu drosseln. Dann hat Horse zwei Möglichkeiten, in Bewegung zu bleiben: Entweder er huscht rasch zwischen zwei Autos durch oder der Verkehr ist dazu zu dicht und er biegt ab, lässt sich von seinem Strom davontragen und kalkuliert
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