Lesereise New York
zur Produktion mehr gibt. »Entweder man näht alles selbst. Oder man geht nach China. Für mittlere Modefirmen gibt es hier in New York keinen Platz mehr.«
Für Hahnekamp gibt es deshalb eigentlich keinen Grund mehr, in ein Geschäft wie jenes von Gary zu gehen. Trotzdem macht sie es immer wieder – und sei es nur für den eigenen Privatbedarf. »Man kann einfach nicht vernünftig schneidern, wenn man Stoffe nur im Internet aussucht«, sagt sie. »Ich muss doch wissen, wie ein Stoff sich anfühlt, wie er fällt, wie schwer er ist.« Außerdem kommen ihr die besten Ideen, wenn sie bei Gary oder bei B&J Fabrics, dem größten verbliebenen Traditionshaus im Viertel, durch die Gänge laufe und sich die Hunderten verschiedenen Rollen von Baumwolle, Seide, Samt und Spitze anschaue. »Erst wenn man das sieht, kommt man doch auf wirklich interessante Gedanken, was man denn mit so einem Stoff anfangen kann.«
Wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, werden sich Hahnekamp und ihre Kollegen die Inspiration jedoch bald in irgendwelchen Großhandlungen in den Vorstädten New Jerseys holen müssen. Die Hoffnung im Garment District schwindet von Tag zu Tag. »Ich glaube nicht, dass es uns in zehn Jahren noch gibt«, glaubt Gary Babb.
Mit dem Verschwinden der Nähereien aus dem Viertel hat eine Abwärtsspirale für den Garment District begonnen. Die Stadtregierung hatte einst einen bestimmten Anteil an Mietfläche für die Textilindustrie reserviert. Ohne die großen Schneidereien konnten die Vermieter diese Fläche aber nicht mehr mit Kunden aus der Branche füllen. Die Stadt war dazu gezwungen, die Nutzungsbindung aufzuheben. Das weckte Begehrlichkeiten, zumal in Manhattan ab Mitte der neunziger Jahre die Immobilienpreise explodierten. Immer mehr Lofts wurden in Luxuswohnungen umgewandelt. Immer mehr schicke Restaurants nisteten sich hier, nur drei Minuten vom Times Square entfernt, in Räumlichkeiten ein, die vorher Knöpfe und Borten im Schaufenster platziert hatten.
All dem zum Trotz ist das Viertel jedoch noch immer nicht komplett durchsaniert. Es ist eine der letzten Gegenden Manhattans, in denen die Gentrifizierung noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Zwischen die letzten Stoffläden mischen sich Elektronikdiscounter, Pornoläden und heruntergekommene Irish Pubs. »Die Modebranche ist nur noch in Stücken da, etwas Neues hat aber noch nicht ihren Platz eingenommen«, beschreibt Gary die Lage treffend.
Bürgermeister Michael Bloomberg ist diese Situation ein Dorn im Auge. Der Medienunternehmer und Multimilliardär mag sein Manhattan aufgeräumt und kapitalfreundlich, er sieht seine Stadt als sicheren Spielplatz für die gut verdienende Finanz- und Informationselite. Deshalb würde er gerne die verbliebene Textilindustrie in einem oder in zwei Gebäuden konzentrieren, als eine Art lebendes Museum für das New Yorker Handwerk. Der Rest der Gegend soll für die Immobilienspekulanten freigegeben werden, um noch mehr Luxuswohnungen, teure Boutiquen und schicke Restaurants zu bauen. »Der Bürgermeister ist unser Feind«, ist sich Gary deshalb sicher, »die Stadt tut nichts, um uns zu helfen.«
Dabei wirbt Bloomberg nur allzu gerne damit, dass New York ein internationaler Modestandort ist und die Fashion Week eine der wichtigsten Modeschauen der Welt. Davor, dass die großen Labels wegziehen, wenn es gar keine Produktion mehr gibt, hat Bloomberg offenbar keine Angst. Er vertraut darauf, dass es weiterhin dem Image der Modeschöpfer zuträglich ist, New York als Firmensitz nennen zu können; auch wenn das nur noch bedeutet, dass hier das Hauptquartier für Marketing und Vertrieb ist und ein paar Designer ihre Computer stehen haben.
Eine Gruppe von New Yorker Modeschöpfern weigert sich jedoch, diese Fragmentierung zu akzeptieren. Sie haben eine Organisation zur Rettung des Garment District gegründet und lassen aus Prinzip nur vor Ort schneidern. »New York kann unmöglich beanspruchen, ein Modezentrum der Welt zu sein, und gleichzeitig keine ernst zu nehmende Produktion mehr vor Ort haben«, sagt die malaysisch-amerikanische Designerin Yeohlee Teng, die eine der treibenden Kräfte hinter der Organisation ist.
Für Teng und ihre Kollegen geht es um mehr als nur um die Rettung des Viertels, den Widerstand gegen die grassierende Gentrifizierung oder um New York als Modestandort. Es geht für sie um eine gesellschaftliche Dynamik, die weit über die Bekleidungsbranche hinausweist. »Wir müssen uns doch überlegen, wo
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