Lesereise New York
die Beine zittern wie Espenlaub.
Später, am Ende seiner Schicht, treffe ich den Mann namens Pferd auf dem Weg zurück nach Brooklyn wieder. Hundert Kilometer ist er heute durch New York gerast, doch genug hat er noch lange nicht. Er hat es eilig, was auch sonst, muss zurück in die WG , Klamotten wechseln, das Rad austauschen und dann hinausfahren auf das Floyd Bennett Field, einen stillgelegten Militärflugplatz nicht weit von Coney Island. Da findet heute Abend ein Radrennen auf dem verwitterten Rollfeld statt, das Austin für eine gute Vorbereitung auf die Kurierweltmeisterschaften hält.
Einer wie er muss in Bewegung bleiben. Ich hingegen schleppe mich zurück nach Manhattan und genehmige mir erst einmal ein großes Bier. Selten war es so schön, einfach nur still zu sitzen und das Leben der Stadt an sich vorbeirauschen zu lassen.
Überlebenskampf in der Kleiderkammer
Der Garment District, New Yorks letzter Handwerksbezirk, ist vom Aussterben bedroht
Es ist voll heute im Laden von Gary Babb, und das, obwohl der New Yorker Winter den Verkehr mit gewaltigen Mengen von Schnee beinahe zum Erliegen gebracht hat und die Menschen durch knöcheltiefe Eiswasserpfützen den Broadway hinunterstapfen müssen. Zwischen Garys Regalwänden drängen sich die Kunden aber trotzdem Schulter an Schulter, lassen die Fingerspitzen über die Stoffrollen gleiten, die dort aufgestapelt sind, schneiden sich kleine Fetzen ab und betrachten sie dann am Fenster im Tageslicht, um die Farben zu prüfen.
Die Fashion Week im New Yorker Lincoln Center steht bevor, die Designer und die Schneider der großen Labels arbeiten hektisch an letzten Änderungen, und da haben Geschäfte wie jenes von Gary, einem alteingesessenen Stoffhändler an der 40th Street, Hochkonjunktur. Jemand von Calvin Klein war heute schon hier, Oscar de la Renta und Marc Jacobs haben ebenfalls jemanden vorbeigeschickt, berichtet Gary stolz.
Früher ging es hier im Garment District, dem alten Stammbezirk der Textilbranche, jeden Tag so zu. Früher, vor dreißig Jahren, als Gary ein junger Mann war, im Laden seines Vaters Stoffrollen schleppte und der Distrikt viermal so groß war wie heute; früher, als es hier noch große Nähereien gab, die für die Modehäuser an der Seventh Avenue die komplette Kollektion fertigten, und als von morgens bis abends Schneidergehilfen Anzüge und Kostüme auf großen Kleiderständern über die 39th und die 40th Street schob.
Heute hingegen ist der Garment District dabei, zu verschwinden. Nur während der Modewochen im Frühjahr und im Herbst machen die wenigen verbliebenen Stoff-, Knopf- und Bortenhändler hier noch ein wirklich gutes Geschäft, ansonsten kämpfen sie ums Überleben. »Ich liebe dieses business noch immer«, sagt Gary, ein kleiner, korpulenter Jude mit einem dichten Zottelbart. »Mein Vater hat es gemacht, mein Großvater hat es gemacht, und ich habe nie etwas anderes gekannt. Aber es wird immer frustrierender.«
Der Abstieg der New Yorker Kleiderkammer, des letzten echten Handwerksbezirks der Stadt, so erinnert sich Gary, begann etwa Anfang der neunziger Jahre. Damals fingen die Modedesigner an, ihre Produktion verstärkt in die Billiglohnländer Ostasiens und Südamerikas zu verlagern. Die großen Lofts im Garment District, in denen seit den dreißiger Jahren in Serie genäht wurde, verschwanden nach und nach.
Davon, dass einst der Großteil der Kleider für die gesamten USA hier entstanden ist, kündet heute nur noch das Denkmal für den anonymen Garment Worker an der Seventh Avenue, eine Bronzestatue eines Nähers. Für die Stoff- und die Zubehörgeschäfte wurde es immer schwieriger, sich hier zu halten. »Mehr als drei Viertel von ihnen sind verschwunden«, glaubt Gary. Das Geschäft hat sich auf Kostümbildner für den benachbarten Theaterbezirk verlagert, auf kleinere Designer, die sich aus Prinzip weigern, in Übersee schneidern zu lassen, und auf den Bedarf für die Fertigung der Prototypen, die Einzelhändlern vorgeführt werden, bevor eine Kollektion in Serie geht.
Doch selbst das Letztere fällt nach und nach der Digitalisierung und Globalisierung zum Opfer. Die deutsche Modedesignerin Astrid Hahnekamp, die für das New Yorker Label Design History arbeitet, erzählt, dass sie ihre Entwürfe nur noch als PDF nach Hongkong schickt. Vier Tage später bekomme sie dann ein Paket mit einem Muster zurück. Ihre eigene kleine Kollektion hat sie hingegen einstellen müssen, weil es in New York keine Möglichkeit
Weitere Kostenlose Bücher