Lesereise Nordfriesische Inseln
er selbst Fisch ist und aufgrund dessen eine moralische Verpflichtung oder wie auch immer abstruse Seelenverwandtschaft zu den stummen Schwimmern verspürt. Nein, es steckt eine tiefe Abneigung in ihm, ein durch nichts und niemanden zu brechender Widerwille gegen alles, was gebraten, gedünstet oder gekocht aus dem Meer auf den Teller kommt. Diese Haltung, die ihn nun über ein halbes Jahrhundert schon um jene furiosen Gaumenkitzel bringt, für deren Beschreibung sich die Testelite aus »Gault Millau«, Der Feinschmecker und Co. bizarrste Prosa einfallen lässt, ist einem frühkindlichen Trauma geschuldet. Und an dessen Entstehung nahm meine Wenigkeit, die kleine Schwester, seinerzeit daselbst teil. Ort der Handlung: unsere Ferienküche in Rantum, wohin wir mit unseren Eltern im VW -Käfer häufig über die Pfingsttage gereist waren. Fangfrische Schollen hatte mein Vater Samstagfrüh freudestrahlend von einem Fischer mitgebracht, eingewickelt in Zeitungspapier unter seinen Arm geklemmt. Mit Speck und Krabben sollten sie wie immer zubereitet werden. Für meine Mutter, eine waschechte »Hamburger Deern« und perfekte Köchin, kein Thema. Nicht so an jenem Vormittag. Denn kaum, dass sie die Schollen ausgepackt hatte, jetteten sie vom Küchentisch auf den Linoleumboden. Das Zucken der Flossen sehe ich noch vor mir. Ich habe auch noch den Aufschrei meiner Mutter im Ohr, die im ersten Moment wie angewurzelt dastand, dann aber den ohnehin schon platten Wesen kurz entschlossen mit der Pfanne eins auf die Riestüten gab. Meinem Bruder war nach diesem darwinistischen Feldzug der Appetit vergangen. Nie wieder rührte er Fisch an. Ganz gleich, in welchem Aggregatzustand. Heute auf Sylt würde er vielleicht in Versuchung kommen …
Für jeden Geschmack und jeden Kontostand bietet die Genuss-Insel Strandlokale, Dorfkrüge, Restaurants: vom Fisch-Glaspalast-Guru Jürgen Gosch über »Fisch-Fiete«, wo man umgeben von Delfter Fliesen »Aal grün« oder »Labskaus nach Seemannsart« oder »Lachstranchen mit Schnittlauchsauce« gediegen schmausen kann, bis zu den Pilgerstätten der Exklusivszene wie dem Fährhaus Munkmarsch oder der »Hütte« Sansibar in den Rantumer Dünen. Patron Herbert Seckler, der umtriebige Schwabe, brachte seinen einstigen Erbsensuppen-Kiosk an die Spitze der kulinarischen Champions League, seine Weine in den Dünensand-Verliesen zählen zu den besten der Welt. Natürlich lagern dort auch Kreszenzen von Franz Xaver Pichler aus der Wachau, federleicht wie »Ballerinen auf Zehenspitzen«, wirbt der Sansibar Weinbestellkatalog. Dieser abhängig machende Schmöker, der in jede Bermudahosentasche passt, wendet sich mit seiner »geballten Winzer-Prominenz« jedoch auch an Otto-Normal-Weinliebhaber. Man muss keinen Grand Cru im Preisklassensegment eines gebrauchten Mercedes erwerben wollen. Vor Herbert Seckler sind alle Menschen gleich, ob börsennotierte Großverzehrer oder eine einfache Rentnerin, die sich auf der Dünenterrasse mit Meeresblick »Sansibars gebrannten Erdbeerkuchen« zu einer Tasse Kaffee gönnt.
Unbeeindruckt vom Weltwirtschaftswetter floriert die Sylter Gourmandise. Nirgendwo in unserer Republik versammeln sich auf derart kleiner Fläche, nämlich knappen zehn mal zehn Kilometern, mehr gekrönte Küchenhäupter als auf Nordfrieslands eitelstem Eiland. Unterm Michelin-Sternenhimmel am längsten dabei: der Schwarzwälder Jörg Müller mit Sitz in Westerland. Appetit auf »Sylter Fischersalat mit Algen«? »Sylter Meeräsche in Zitronen-Kapernfond«? »Nordsee-Steinbutt mit Austernragout«? Und zum Dessert »Gratinierten Keitumer Ziegenkäse im Tiroler Speckmantel«?
Meeresküche schmeckt auf Sylt jedoch auch auf weniger hochgestochenem Niveau. Zum Beispiel in Hörnum, dem alten Hafendorf an der vom Sturm mitgenommenen Südspitze, wo die Urenkelin des Firmengründers von »Wella« 2009 ein Fünf-Sterne-Superior-Hotel mit Golf und Spa eröffnete, was seither für geteilte Meinungen sorgt. Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Sondern von »Fisch Matthiesen«, jenem Bistro, das der Neffe des Sylter Sturmfotografen und Sturm-Amateurfilmautors Werner Matthiesen unweit vom Strand nordisch hell und heiter aufgezogen hat. Für seine Fischbrötchen und Fischgerichte verwendet Stefan Matthiesen ausschließlich Fisch aus der Nordsee, Heringe, Steinbeißer, Meeräsche, Makrelen – was sonst? Angekarrtes aus dem Atlantik oder dem Pazifik lehnt der gut aussehende Einzelkämpfer, der aus Kappeln von der
Weitere Kostenlose Bücher