Lesereise Nordfriesische Inseln
fand sie sofort einen Draht. Ihr gefiel seine unangepasste, witzige Art. Allein schon, wie er sich angezogen hat! Mit Ledersandalen, gesprenkeltem Wollsweater und Schlotterhose! Markenzeichen aber war seine Schirmmütze, »geschmückt mit den Federn der Raubmöwen, den Trophäen ihrer Kämpfe«, amüsierte sich Mirl, sonst war »nichts Raubmöwenhaftiges« an ihm.
Penzoldt, der Wortschöpfer, der Lautmaler, stand auf seiner »blonden Zauberinsel« mit der Sonne auf, sein Zimmer schmückte er mit Seesternen, Steinen und Muscheln, die er am Strand gefunden hatte. Gern lauschte er auf der Kampener Heide dem Lerchengesang oder dem »Singen, Flüstern und Rieseln« am Watt. Immer wieder wunderte er sich, wie »metallisch laut« die Nordsee rauschen kann. Und wie ihre Wellen wogen! »Sieht es nicht aus, als wenn ein Verkäufer immer neue Stoffe vorlegt und über den Ladentisch hinrollt?« Gefesselt von der Morphologie des Amorphen, wie Penzoldt in seinen Episteln formuliert, lernte er auf Sylt, »mit Zeitlupe« zu sehen. Davon zeugen seine filigranen Zeichnungen von Algen und Meeresfrüchten.
1938 hielt sich Ernst Penzoldt abermals für einige Sommerwochen im Suhrkamp-Haus auf, frönte seiner Lieblingsbeschäftigung, dem schöpferischen Nichtstun. »Meine Uhr ist stehen geblieben. Es muss wohl Sand ins Werk gekommen sein. Aber ich brauche sie hier nicht. Ohne Uhr hat man immer Zeit. Richtet sich doch die Zeit nicht nach der Uhr. Manchmal eilt sie. Manchmal verweilt sie. Sie ist aus ähnlichem Stoff gemacht wie der Wind.« Die Julisonne ließ für Momente vergessen, wie sich Deutschland politisch verdunkelte. Doch schon bald hatte der drohende Krieg auch auf Sylt seine Zeichen gesetzt, verschandelten Batteriestellungen, Bunker und Barackenlager die Dünenlandschaft. Die Insel wurde »Festung«. 1940 erkor die Wehrmacht Sylt zum Exerzierplatz für den deutschen Angriff auf die britische Insel aus. »Seelöwe« hieß das militärische Spiel. Und da der Generalstab null Ahnung von Kanalüberquerungen besaß, simulierten Panzer vor Hörnum den Ernstfall mit Unterwasserfahrten und Landungen auf Schlick und Sand.
Sylt war inzwischen menschenleer, der Badebetrieb weithin eingestellt.
Peter Suhrkamp quälten Sorgen. Seitdem der Fischer Verlag den verfemten Teil seines Unternehmens nach Wien hatte verlegen müssen, um einer »Arisierung« zu entgehen, führte er die Geschäfte in Berlin. NS -Schikanen lähmten die Arbeit. Wann immer möglich, setzte sich Suhrkamp darum Richtung Sylt in die Bahn über den Hindenburgdamm (so heißt »das Ding in aller Unschuld noch heute«, wetterte unlängst Fritz J. Raddatz, »als hätte uns der Kerl nicht den Hitler angeschafft«). Nur selten verbrachte Suhrkamp allerdings seine Auszeiten gemeinsam mit Mirl. Wochenlang weilte sie allein im Kampener Refugium. In der »Wiesmühl« nahe Salzburg, wohin sich »Zuck« mit seiner Familie 1926 zurückgezogen hatte, trafen nun ganze »Segelflottillen, Schwalbenzüge, Möwenflüge« Mirl’scher Briefe ein, manchmal gleich »drei an der Zahl, die nach Salzwind und Heide riechen«.
Oft hatte Peter Suhrkamp den Wunsch gehegt, alle Zelte in Berlin abzubrechen und mit Mirl nach Sylt zu ziehen – umgeben von bloßem Sand »mit Gekrakel von Vogelfüßen … Steppen von Sandgras …« So träumte er 1943 in seinem Essay »Die nordfriesische Insel«, der schönsten Liebeserklärung an Sylt. Alles dort sei »ganz nah«, doch zugleich auch »in einer gläsernen Ferne«, und sobald man sich der Windsbraut nähere, schwängen andere Erdenbilder mit, homerische Buchten, schottische Moore, tibetanische Himmel. »Um das zu finden, muss ein Mensch allerdings mit dem Gemüt offen unter den beweglichen Winden der Phantasie liegen.« Suhrkamp hatte die Gabe zum Sehen, fühlte sich auf Sylt, als wäre er in einen »Bannkreis« getreten, »in dem noch der Zauber seine Macht ausübt«.
Gegen Ende des Krieges wurde Peter Suhrkamp von einem Spitzel, den man in seinen Verlag eingeschleust hatte, denunziert, von der Gestapo verhaftet, wegen Hochverrats angeklagt und 1944 ins KZ Ravensbrück interniert. Mirl kämpfte bis zur Erschöpfung für seine Freilassung. Doch nur, weil man annahm, der stark Angeschlagene würde nicht mehr lange leben, ließ man ihn gehen – mit einem Riss an der Wirbelsäule. Die Haftfolgen machten Suhrkamp zu schaffen. Gleichwohl kümmerte er sich erstaunlich rasch wieder um seine Autoren. Auch um das Friesenhaus auf Kampen! »Die Möbel sind noch
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