Lesereise Nordfriesische Inseln
konsequentem Fernbleiben quittierten. Weitere Kreise zog die Reiseunlust, als man Teile der Düne, die bis dahin unter Naturschutz standen, mit Ferienbungalows bebaut hat. 2007 warfen Sturmfluten unter der Regie von Orkan »Tilo« ungeheure Sandmassen von der Düne ins Meer – viertausend Eisenbahnwaggons hätten sie füllen können! 2010 fiel ein Tornado über den Dünenzeltplatz her, schleuderten Strandkörbe haushoch in die Luft, die Bungalows blieben von dem Unwetter verschont. Es trifft immer die Falschen. In alter Seeräubermanier dachten die Helgoländer über neue Vermarktungskonzepte nach, die frisches Geld in die Kassen spülen sollten. Was lag da näher, als die Landkarte der Insel von 1721 wiederherzustellen, also die Düne wieder »anzunähen«? Doch damit nicht genug. Sandvorspülungen in großem Stil sollten zugleich die Inselnutzfläche ausdehnen – für bescheidene zweihundertfünfzig Ferienhäuser, schwimmende Eigenheime, ein halbes Dutzend Hotels und eine Marina für solvente Jachtbesitzer. 2011 stimmten die Insulaner über diesen Wahnsinn ab. Das Votum dagegen erreichte eine nur knappe Mehrheit. Armes Helgoland. Rot ist die Kant, weiß ist der Sand, grün ist das Land …
Sturmfluten drohen, wenn Tiefdruckgebiete vom Nordatlantik heranpreschen. Dort, weit draußen, brauen sich die Unwetter an der deutschen Nordseeküste zusammen, werden die Wellen mit Energie aufgeladen. Bei fünf Meter hohen Wasserschlachten schmettern zweihundertvierzig Megawatt auf einen Kilometer Strand. »Gero«, »Antje« oder »Kuno« (verstehe einer, warum Orkane gemütliche Kumpelnamen tragen!) bahnen sich zwischen Schottland und Norwegen an der Ostküste Englands vorbei ihren Weg nach Nordfriesland und metzeln alles nieder, was sich ihnen entgegenstellt. Wellen, die eben noch beruhigend säuselten, werden zu Gebrüll, aufgewirbelter Sand lässt Dünen »rauchen«, die Halligen melden »Land unter«, Menschen torkeln wie betrunken zwischen Sturmböen, Schiffe verlieren ihre Verankerungen, irren auf der kochenden See umher. Sir Francis Beaufort, ein englischer Admiral, erfand 1806 jene Skala, nach der wir bis heute die Windstärken benennen und charakterisieren, angefangen bei Windstärke null, wenn absolute Windstille herrscht und das Meer wie in ruhiger Andacht atmet, bis Windstärke zwölf, wenn der Wind mit fünfundvierzig Metern pro Sekunde (!) seine Feldzüge antritt, bewaffnet mit baumhohen, Gischt spritzenden Wellen. Letztere nehmen seit einer Weile immer gewaltigere Ausmaße an, stellten Meeresforscher fest. Und die Abstände zwischen »Jahrhundertfluten« verringern sich. So folgte nach der »Großen Flut« von 1962 erst wieder 1976 ein ähnlich dramatisches Fanal. Doch nach den Orkanen 1990 marschierten Sturmfluten stakkatoartig 1991, 1992, 1993 heran. Sylt gingen die Attacken an die Substanz, woran sich bis heute nichts geändert hat. Durch ihre geografische Lage ist die Insel den Prankenschlägen der Nordsee besonders heftig ausgesetzt. Hinzukommt das extrem steile Unterwasserrelief vor Westerland, das bewirkt, dass sich die Flutwellen nach Hunderten von Kilometern Anmarsch erst kurz vorm Sylter Strand brechen – aufgeladen mit ungeheurer Schlagkraft. Mehrere Meter Küstenschwund sind alljährlich die Folge. Seit 1972 ist der Küstenschutz dabei, diese mit Sandvorspülungen auszugleichen. Dabei hinterlassen die Sandentnahmen aus dem Meeresboden vor der Sylter Westküste jedes Mal ein Loch, in das tausend Einfamilienhäuser hineinpassten. Alles auf der Insel erscheint maßlos.
Stürme haben keine Farbe, keine Konturen, sind unsichtbar, unberechenbar. Zu sehen ist nur, was sie nach Abzug ihrer Truppen hinterlassen. Auf skurrile Weise erzählen davon jene Kiefernwurzeln, die im Garten der »Kupferkanne« am Kampener Watt die Wolken bürsten. Ein halbes Jahrhundert steckten sie tief in der Erde, eingepflanzt von Günter Rieck, der das berühmte Café, besser gesagt die Bar, aus einem Flakbunker mit verwinkelten, nur von Kerzen beleuchteten Gängen und Nischen gezaubert hatte. 1949 landete der Bildhauer im Nachkriegsgewirr auf Sylt, von der Militäradministration bekam er den Bunker als Quartier zugewiesen. Rieck, der auch das Töpferhandwerk beherrschte, grub sich ein Schlafzimmer in den Geestkernsand, meißelte ein Fensterloch in die Bunkerwand, richtete sich ein Atelier ein, fing an, Vasen aus Wattschlick zu modellieren. Bald kamen Freunde, die es wie ihn auf die Insel verschlagen hatte, auf ein Glas Wein
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