Lesereise Nordseekueste
Zeiten, das jedenfalls sagen viele, die von Sportarten wie Boßeln und Klootschießen etwas mehr verstehen. Dreimal war er Europameister, 1984, 1988 und 1992, kein anderer hat das geschafft. Ein Vorzeigeathlet, zwei Meter groß, hundertzehn Kilo schwer. Und immer noch einer der Leistungsträger von »Lat’n rulln« Schweinebrück, auch wenn er – sportlich gesehen – seine besten Tage bereits hinter sich hat. »Heute müssen wir gewinnen«, hat Bohlken vor dem Spiel gesagt. Doch es läuft nicht. Von Anfang an nicht.
Allein die erste Kugel der Schweinebrücker: rollt zwar noch durch die leichte Rechtskurve, kullert dann jedoch im gefrorenen Graben aus. Dass eine solche Kugel überhaupt durch eine Kurve rollen kann, grenzt für unbedarfte Beobachter bereits an ein kleines Wunder. Mit dem Daumen oder dem kleinen Finger geben die Werfer die Richtung vor, ein kleiner Rechts- oder Linksdrall, minimal nur. Während die Schweinebrücker ihre Kugel aus dem Graben fischen, muss Hans-Georg Bohlken auch noch mit ansehen, wie die Boßel der Schepser wie an einer Schnur gezogen die Straße entlangrollt und dann nicht etwa seitwärts ausbricht, sondern vom gefrorenen Straßenrand zurück auf den Asphalt prallt und, angefeuert von den Ammerländern, kleiner und kleiner wird. Ein lang gezogenes »Jaaaawolll!« hallt durch die winterliche Landschaft. Dann endlich kommt die Kugel zur Ruhe, nach hundertachtzig Metern vielleicht.
Bohlken ist dran. Nimmt acht, neun Meter Anlauf, bläht die Backen, reißt den rechten Arm nach vorne, donnert die Boßel raus und verfolgt, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, ihren Lauf. Und schüttelt dann den Kopf. Es fallen Wörter, die nicht in ein anständiges Buch gehören. Ein Gutes hat dieser Sport ja: jeden Sonntag auf der Landstraße, bei Wind und Wetter, das härtet ab. An seine letzte Erkältung kann sich der Elektromeister schon gar nicht mehr erinnern. Am liebsten wirft Bohlken auf breiten Straßen wie der in Pfalzdorf, einer ostfriesischen Boßel -Metropole. Da bleibt die Kugel mitunter erst nach zweihundertfünfzig Metern liegen. Wobei Kraft und Technik allein nicht reichen. Ein Profi wie Bohlken liest die Straße, sieht ihre Höhen, Tiefen und Tücken. Wenn die Kugel dann noch eine Rille findet – wunderbar!
Noch anspruchsvoller und bei vielen Vollblut- Boßlern auch beliebter ist das Klootschießen , der historische Vorläufer, aus dem das Straßenboßeln im Lauf des 19. Jahrhunderts erst hervorgegangen ist. Kloot kommt von »Kluten«, so nannten die Ur-Friesen gebrannte Lehmklumpen, mit denen sie die Römer und andere Feinde abgewehrt haben sollen. Auf jeden Fall zog man bereits vor Jahrhunderten über die Felder, Hof gegen Hof, Dorf gegen Dorf, wobei alkoholisierte Werfer den Kloot mitunter sonst wohin schleuderten. Klootschießen stand lange Zeit nicht im besten Ruf und war sogar mal, bei Androhung »scharfer körperlicher Züchtigung«, verboten. Doch richtig populäre Dinge lassen sich nicht unterbinden, auch nicht mit obrigkeitsstaatlichen Maßnahmen, und Klootschießen schon mal gar nicht. Zu einem Feldkampf zwischen Oldenburg und Ostfriesland – ein Ereignis, vergleichbar bestenfalls mit einem Fußballklassiker wie dem zwischen Deutschland und den Niederlanden – kamen früher bis zu zwanzigtausend Menschen. Im Unterschied zum Boßeln geht es beim Klootschießen nicht über gerade Straßen, sondern querfeldein, am besten auf gefrorenem Boden. Die Weiten, die mit der kleinen Holzkugel mit Bleifüllung erzielt werden, sind geringer als beim Boßeln – trotz eines großen Anlaufs und eines Sprungbretts. Erst 1935 knackte der Ostfriese Gerd Gerdes die Hundert-Meter-Marke. Ein halbes Jahrhundert später, am 15. September 1985, schraubte Hans-Georg Bohlken den Rekord auf hundertfünf Meter zwanzig. Die blieben elf Jahre lang das Maß aller Dinge, bis es Stefan Albarus gelang, auch diesen Rekord zu brechen. Der Mann aus Norden in Ostfriesland hält mit hundertsechs Metern zwanzig den aktuellen Weltrekord, der »Bär von Ellens«, wie Bohlken auch genannt wird, bekleidet in der Ewigenliste aber immer noch Platz zwei.
Mehr noch als der Weltrekordwurf nährte seinen Ruhm das, was sich nur eine Woche zuvor im irischen Cork zugetragen hatte. Dort feierte der nationale Verband ein Jubiläum. Und die Iren sind wettbegeisterte Leute. Um die besten Klootschießer aus Irland, den Niederlanden und Deutschland, um also die Weltspitze nach Cork zu locken, hatte eine Brauerei einen Preis
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