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Lesereise Nordseekueste

Lesereise Nordseekueste

Titel: Lesereise Nordseekueste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Stelljes
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zwei Wochen im Hafen von Baltimore. Dort stieg Johann Diedrich Schröder in einen Zug, der ihn zu seinem Bruder nach Nebraska brachte.
    Das Beispiel von Johann Diedrich Schröder ist nicht untypisch: Wie er waren viele Auswanderer aus den Dörfern Nordwestdeutschlands keine achtzehn Jahre alt, Söhne kleinerer Bauern, ohne Perspektive in der Heimat, es fehlte ganz einfach an Land für die stark wachsende Bevölkerung. Wie er folgten viele dem Beispiel eines Verwandten, der bereits jenseits des großen Teiches Fuß gefasst hatte, sie wussten also, an wen sie sich wenden konnten und wer ihnen in der ersten Zeit über die Runden helfen würde. Und wie er wählten viele Bremerhaven als »Tor zur Neuen Welt«: Mehr als sieben Millionen Menschen wanderten zwischen 1830 und 1974 über die noch junge Stadt an der Wesermündung aus, darunter viele Flüchtlinge aus Osteuropa.
    Die Geschichten dieser Menschen lässt man sich am besten im Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven erzählen. Es sind traurige Geschichten wie die von Helene Maeckel, einem zweijährigen Mädchen aus Sachsen: Die strapaziöse Überfahrt raubt ihr zwei Brüder, das heimtückische Gelbfieber bald nach der Ankunft auch noch die Eltern – mit sechs Jahren ist sie Vollwaise, zum Glück gibt es einen Onkel, der sich ihrer annimmt. Es sind auch skurrile Geschichten wie die von Paul Lemke aus Brandenburg, den es auf Umwegen nach Honolulu verschlägt, wo er es zum königlichen Hofschneider von Hawaii bringt. Und es sind Geschichten, die den Tellerwäscher-Mythos nähren, die von Carl Laemmle zum Beispiel. Er ist das zehnte von dreizehn Kindern eines Viehhändlers aus Oberschwaben und gilt als Gründer Hollywoods, in seiner Filmfabrik wurden Klassiker wie »Der Glöckner von Notre Dame« und »Im Westen nichts Neues« produziert.
    Heften wir uns also an die Fersen eines dieser Menschen und machen wir einen Rundgang durch das Auswandererhaus, das 2007 zum »Europäischen Museum des Jahres« gekürt wurde. Unsere Reise in die Neue Welt beginnt in einem Wartesaal dritter Klasse – er ist dem Wartesaal nachempfunden, den der Norddeutsche Lloyd ab 1869 in Bremerhaven baute. Eine steile Stiege führt zur Kaje . Vor uns eine Hafenszene, zu unserer Rechten die »Lahn«, ein Schnelldampfer des Norddeutschen Lloyd, oder doch wenigstens die Bordwand, nachgebaut in Originalgröße. Haben sich unsere Augen an das Halbdunkel gewöhnt, erkennen wir die Umrisse von Menschen. Eine Gruppe von Auswanderern, täuschend echt. Eine Ratte huscht über das Pflaster, verschwindet gleich hinter einem Berg aus Kisten, Koffern und Fässern. Über eine weiße Gangway gelangen wir ins Innere des Schiffes. Im Grunde sind es drei Schiffe, denn die Museumsmacher wollen, dass wir die Unterschiede erfahren zwischen einem Segelschiff anno 1855, einem Dampfschiff anno 1887 und einem Ocean Liner anno 1929. Wie lange die Überfahrt dauerte, wie lange man das Schnarchen des Mannes im Nebenbett oder das Schäumen der See hinter dem Bullauge ertragen musste, all das hing ab von Schiffstyp und Reisedatum.
    Dann, endlich, Ellis Island, die »Insel der Tränen« in Sichtweite von New York. Sie wurde zum Nadelöhr für Millionen von Auswanderern, hier entschied sich, wer ins Land der Träume durfte und wer nicht. Wir wähnen uns im Jahr 1907, dem Jahr mit der höchsten Zahl an Einwanderern über Ellis Island, exakt eine Million zweihundertfünfundachtzigtausendzweihundertneununddreißig. Gehen durch einen langen, kalten Gang. Warten in einem Gitterkäfig. Die letzten Hürden: ein ärztlicher Test und neunundzwanzig Fragen. »Waren Sie jemals im Gefängnis, in einer psychiatrischen Einrichtung, oder haben Sie von staatlicher oder wohltätiger Unterstützung gelebt?« Wir ahnen, dass man hier besser »Nein« ankreuzt. »Sind Sie Polygamist?« Um Gottes willen, nein! »Welche Haarfarbe haben Sie?« Kurzes Nachdenken: Kann man bei dieser Frage etwas falsch machen? Schließlich: »Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen?« Aber sicher doch! Was heute Kopfschütteln oder Heiterkeit auslöst, entschied vor gut hundert Jahren über den weiteren Lebensweg. Eine Entscheidung, für die sich der Inspektor auf Ellis Island pro Einwanderer durchschnittlich nicht mehr als zwei Minuten Zeit nahm.
    Am Ende ihres Ganges durch die Geschichte begeben sich viele Besucher des Auswandererhauses noch auf individuelle Spurensuche und stöbern in den Datenbanken: Ist der Urgroßonkel in einer der alten Passagierlisten zu finden? Hat

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