Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
auf das irische Queenstown, den letzten Hafen, den das Schiff erreichen würde. Im Museum verschwindet auf einer großen Leinwand die Silhouette der normannischen Küste in Echtgröße. Die Besucher stehen vor einer Reling und schauen zu – als stünden sie selbst an Deck. Im Zeitraffer können sie hier die Zeit bis zum Untergang nacherleben. Aus dem Schiff erklingt Tanzmusik. Tag und Nacht wechseln sich ab. Am Himmel erscheinen Sterne, auf dem Wasser bald die ersten Eisschollen. In der Nacht herrscht Stille. Nur das Eis knistert. Irgendwann kommt von Frederick Fleet auf dem Ausguck die Warnung: »Eisberg!« Zweiundvierzig Sekunden später ein langes, lautes Knirschen. Auf der Leinwand sind Funksprüche zu lesen, die die Funker der Titanic mit den Schiffen in der Umgebung austauschen. Um ein Uhr dreißig in der Nacht meldet die Titanic, dass sie Passagiere in Rettungsboote lädt. Sieben Minuten später funkt die »Olympic«: »Wir eilen euch zu Hilfe.«
Am dunklen Himmel funkeln Sterne, Wolken ziehen vorbei. Um ein Uhr fünfzig funkt die Titanic an die »Carpathia«: »Kommt, so schnell ihr könnt.« Auch die Schiffe in der Nähe verständigten sich untereinander: »Die Titanic schweigt seit zwanzig Minuten«, heißt es besorgt um ein Uhr siebenundfünfzig. Um zwei Uhr dreizehn ist ein Krachen, Donnern und Glucksen zu hören, das den Besuchern im Museum einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagt. Zwei Stunden und vierzig Minuten nach der Kollision mit dem Eisberg versinkt die Titanic im Nordatlantik. Am Schluss geht ganz schnell, was Jahre brauchte, um sich zur Katastrophe zuzuspitzen. Zwei Jahre zuvor hatte sich der Eisberg, der zu fünfundachtzig Prozent unter Wasser lag, von der Westküste Grönlands gelöst. Er legte fast zehntausend Kilometer zurück, bis die Titanic auf ihn traf.
Vom Untergang ist auf der Leinwand nichts zu sehen. Nur Sterne zeigen sich dort, Eisschollen und die Lichter eines anderen Schiffes in der Ferne. Es ist ein gespenstisches Bild. Was sich unterdessen auf der Titanic abgespielt hat, ist am Ende der Ausstellung noch einmal in dürre Zahlen gefasst: Siebenhundertundzehn Passagiere überleben die Katastrophe, tausendfünfhundertvierzehn Menschen sind tot. Achtzig Prozent der Männer an Bord kommen um, sechsundzwanzig Prozent der Frauen – eine Folge der konsequent umgesetzten Devise, zuerst Frauen und Kinder in die wenigen Rettungsboote zu setzen.
Fünfundsiebzig Prozent der Opfer hatten die Passage in der Dritten Klasse gebucht. Von hundertneun Kindern überlebten nur zweiundfünfzig. Dass nicht mehr Kinder gerettet wurden, lag daran, dass die meisten von ihnen Emigranten waren, also in der Dritten Klasse reisten.
Auf der Suche nach vergangenen Sommern
Im Grand Hôtel in Cabourg schrieb Marcel Proust den berühmtesten Roman der französischen Literaturgeschichte
Ein brandneues Hotel am Meer, ausgestattet mit modernstem Komfort – sogar Strom gab es dort, private Bäder für die Gäste und Zentralheizung. Marcel Proust (1871–1922) ließ den Figaro vom 10. Juni 1907 sinken. Zentralheizung – damit konnte kaum ein anderes Hotel in Frankreich aufwarten. Aufenthalte am Meer, insbesondere im schicken normannischen Seebad Trouville, gehörten zu Prousts Leben, seit er im Alter von elf Jahren Asthma entwickelt hatte. Mit seiner Mutter, die 1905 starb, war er sogar schon in Cabourg gewesen. Doch der Luxus, den dieses neue Grand Hôtel versprach, war selbst für Pariser Verhältnisse unerhört.
Unverzüglich reiste Proust ab. Er befand sich in Begleitung eines Dieners und hatte ein angefangenes Manuskript im Gepäck, das noch kaum mehr als eine Skizze war. Es war der Keim seines literarischen Großprojekts, dem er die nächsten Jahre widmen sollte. Als Sohn vermögender Eltern war er auf die zeitraubenden Mühen des Broterwerbs nicht angewiesen. Proust nahm im vierten Stock des nagelneuen Hotels in Cabourg drei Zimmer. Im mittleren schlief er, die beiden anderen bildeten eine Schutzzone. Ganz sicher wollte er sein, dass er seine Ruhe haben würde – ohne dass ihm plappernde Zimmernachbarn vor der Tür auflauerten oder schlagende Türen seine Konzentration störten.
Schnell entwickelte er eine angenehme Routine. Weil er die Sonne verabscheute, verließ er selten vor dem Abend seine Zimmer. Im Restaurant saß er stets am selben Tisch, nahm einen Fisch zu sich, trank einen Kaffee und ging dann ins benachbarte Casino – dazu musste man seinerzeit nicht einmal das Haus
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