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Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados

Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados

Titel: Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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verlassen, da diese beiden Mittelpunkte des örtlichen gesellschaftlichen Lebens miteinander verbunden waren.
    Proust traf Freunde und beobachtete Aristokraten in der Sommerfrische. Sobald er nach Mitternacht ins Zimmer zurückkehrte, schrieb er alles auf – angereichert durch den neuesten Klatsch aus der Hauptstadt, den er Briefen seiner Freunde aus Paris entnahm. Bis 1914 kam Proust jedes Jahr wieder, spielte (in den Abendstunden) gelegentlich Tennis und vollendete schließlich sein siebenbändiges Werk: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Vom vertauschten Koffer, der in die Bretagne statt in die Normandie reiste, bis zum Problem steigender Hotelpreise machte er während seiner Sommer in Cabourg zudem ganz ähnliche Erfahrungen wie Reisende heute.
    Der Schauplatz des Bandes »Im Schatten junger Mädchenblüte« aus Prousts epochalem Werk ist »Balbec« – die literarische Entsprechung Cabourgs und heute auch der Name eines Literaturfestivals, das in ungeraden Jahren hier und im nahe gelegenen, von Proust ebenfalls geschätzten Seebad Trouville stattfindet. Überhaupt unternahm er gelegentlich gerne einen Ausflug, wobei er die Dörfer und Städte der Normandie stets mit den Augen des Schriftstellers sah. So formte er die Kirche Balbecs nach der Kathedrale von Bayeux.
    Der Identifikation Cabourgs mit Balbec tun derlei Details keinen Abbruch. Mit so großer Leidenschaft gedenken die Einwohner Cabourgs ihres berühmtesten Gastes, dass sie anlässlich der sommerlichen Festivitäten sogar die Ortsschilder verhüllen und durch solche mit dem Schriftzug »Balbec« ersetzen. Damit die Zeit zwischen zwei Festivals nicht zu lang wird, lädt die Marcel-Proust-Gesellschaft im Sommer wöchentlich zu Vorträgen rund um ihren Lieblingsliteraten ein. Im September 2012 fanden außerdem zum ersten Mal die »Journées Musicales de Marcel Proust« statt, eine Reihe von Konzerten und Vorträgen. Schauplatz ist – wie könnte es anders sein – das Grand Hôtel.
    Großzügig sieht man in Cabourg darüber hinweg, dass der Besuch des Dichters auch eine Wunde hinterlassen hat. »Wir wissen nicht, warum er nach 1914 nicht mehr zurückgekommen ist, obwohl er es doch vorhatte«, seufzt Jean-Paul Henriet, Bürgermeister der Stadt und ein großer Verehrer des Literaten. Jeden Tag lese er in Prousts Werk, mit besonderem Vergnügen in seinen Briefen. »Ich habe Proust gelesen, als ich jung war, und hatte große Probleme damit«, erinnert er sich. Als der Beruf ihn von Paris nach Cabourg führte, wagte er sich neuerlich an die »Suche nach der verlorenen Zeit«. Diesmal war er sofort gebannt. Heute ist er Proust-Kenner und Sammler seltener Ausgaben seiner Werke.
    Als Proust das neue Grand Hôtel zum ersten Mal besuchte, war Cabourg als Seebad bereits seit Längerem beliebt. Schon seit 1855 fuhr die Bahn von Paris bis hierher. Grund für deren Ausbau war vor allem das im Jahr davor errichtete Casino gewesen, damals ein hölzerner Bau; aber auch das Kurwesen, das an der Kanalküste entstand. Mit sieben Stunden Fahrzeit von Paris waren die neuen Badeorte kein Ziel für einen Wochenendausflug. Die mondänen Gäste aus Paris blieben daher gleich mehrere Wochen. Der Strand war in Abschnitte für Männer, Frauen und Fischer geteilt, in den Dünen hüpften Hasen, mit denen die Dorfbewohner regelmäßig ihre Sonntagstafeln schmückten. 1861 entstand das erste Grand Hôtel, das 1906 zugunsten eines moderneren Nachfolgerbaus im Belle-Époque-Stil abgerissen wurde. 1907 wurde auch das Casino durch den heutigen Bau ersetzt. 1886 schon waren die ersten schicken Villen der Dauergäste entstanden; bald waren es zweihundert mit Türmen und Giebeln verzierte Häuser. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Cabourg so beliebt, dass das Grand Hôtel allein die vielen Gäste aus Paris nicht mehr aufnehmen konnte. Es bekam Konkurrenz von anderen Herbergen – allerdings keine ernstzunehmende, wie man im Haus noch heute versichert.
    Die Gäste aus Paris brachten indessen außer Geld gelegentlich auch Probleme. Vor allem, wenn ihre Hauptstadt-Spleens mit den moralischen Standards der Küstengemeinde kollidierten. Vor dem Zweiten Weltkrieg sah man sich genötigt, kurzhaarigen Frauen den Zutritt zum Casino zu verwehren. Die wussten sich jedoch zu helfen: Am Nachmittag saßen die Damen beim Friseur, um sich Perücken für den Abend anpassen zu lassen. Morgens flanierten sie wieder mit kurzen Bobs durch den Ort und ernteten verständnislose Blicke von normannischen

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