Lesereise Paris
mit ihrer Geliebten Missy eine anstößige Nummer aufführte. Ein schüchterner Anfänger namens Jean Gabin deklamierte neben der Mistinguett kleine Sketches. Und noch immer zeigt das Moulin Rouge mit Strass und Straußenfedern, Fantasie und Technik, dass es auf Erden Besseres gibt als Peepshows und Topless Bars. Was können die Tanzmädchen und Artisten dafür, dass der berühmte Wanderer durch Paris, Léon-Paul Fargue, schon 1938 über den heruntergekommenen Montmartre schreiben musste: »Bald werden wir Hundertjahrfeiern veranstalten müssen, um die Pariser an diese verschwindenden Quartiere zu erinnern. Der Boden der Cabaret-Sänger und Karikaturisten verkümmert; er bringt nur noch Zuhälter und Spießer hervor.«
Eigentlich ist das Moulin Rouge viel jünger. Denn 1915 brannte es aus und blieb zehn Jahre geschlossen. Von 1930 bis 1951 wurde es sogar zum Kino degradiert. Toulouse-Lautrec war schon beinahe tot, als man 1900 – noch dazu nach dem Vorbild des Berliner Wintergartens – das Diner zum Spektakel einführte, und die zur Alkoholikerin gewordene Goulue war entlassen, denn sie hatte dem Prince of Wales mit ihrem Stöckelschuh den Zylinder vom Kopf gestoßen. Zur Jahrhundertfeier hatte man, wie es die Public-Relations-Leute nennen, »internationalen Jetset« geladen: Esther Williams und Charles Trenet waren noch dabei, Ella Fitzgerald und Ray Charles, Dorothy Lamour, Jane Russell und Lauren Bacall. Große Namen aus dem Jetset, von denen manche auch schon mit dem Propeller geflogen sind.
Auf der Suche nach der verlorenen Lust
Die Sphinx im Freudenhaus
Er werde einen guten Preis machen, verspricht der Besitzer. Vor ihm stehen ein Schwarzer mit einem Plastikhut und eine weiße Frau, heftig geschminkt, nicht mehr ganz jung. Sie überlegen. »Einen guten Preis«, beschwört der Patron in einem Französisch, das nach Nordafrika klingt. Zu ihm kommen viele, wenn auch nicht mehr lange und vor allem nicht aus Gründen, für welche die Adresse einst bekannt war. Denn schon wieder wird zugesperrt. »Völlige Liquidation vor Schließung«, verkünden bunte Plakate auf den verzinkten Rollläden, von denen zwei schon heruntergelassen sind. Links und rechts der Tür stehen auf dem Trottoir Stapel bunter Metallkoffer. Es gibt auch Stoffe, Hausrat und Kleidung zum halben Preis.
Noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts tat im Haus Nummer 106 am Boulevard de la Chapelle die Heilsarmee ihre guten Werke. Danach übernahm die Stadt Paris das Haus auf Abbruch. Bis zur ersten Schließung im Nachkriegsjahr 1946 war hier ein Bordell. Nach einer heftigen Redeschlacht hatte die Nationalversammlung am 13. April jenes Jahres entschieden, dass es in Frankreich hinfort keine öffentlichen Häuser mehr geben soll. Den hundertsiebenundsiebzig maisons de tolérance der Hauptstadt sowie den dreizehnhundert im Rest des Landes wurde eine Frist von sechs Monaten eingeräumt. Vor sechzig Jahren war alles vorbei. Jubiläen, die keiner feiert. Dabei gehörten solche Häuser einmal so fest zur bürgerlichen Welt Frankreichs wie laizistische Volksschule, Wehrpflicht oder die Institutionen der Dritten Republik. »Mein lieber, kleiner Großvater«, schrieb der siebzehnjährige Marcel Proust, »ich bitte Dich um Deine Freundlichkeit.« Er bat außerdem um zehn Francs. Die hatte ihm zwar schon sein Vater gegeben, damit er ein Bordell aufsuchen konnte. Doch er war zu aufgeregt, um sich dort anders als finanziell zu erleichtern. »Ich wage nicht, Papa schon wieder um Geld zu bitten, und ich hoffe, dass Du mir in dieser Lage zu Hilfe kommst.« Ursprünglich wollte sich Proust an einen »Monsieur Nathan« wenden. »Aber der Mama ist es lieber, wenn ich Dich frage.« Der Brief ist erhalten.
Es war die Welt, in der Priester Soutanen trugen, Herren sich duellierten, Verbrecher in Ketten nach Cayenne verschickt wurden und ehrbare Frauen Krisen meisterten, indem sie dekorativ in Ohnmacht fielen. Männliche Fantasien konnten sich in der Armee verwirklichen, die jeden Herbst ins Große Manöver zog, in den Kolonien – und bei den nicht ehrbaren Frauen. Die Moral blieb gewahrt, weil auch die doppelte Moral so gut funktionierte.
»Das Chabanais? Was meinen Sie damit?«, fragt der Mann am Empfang des Hauses Nummer 12 in der gleichnamigen Straße. Er ist nur Urlaubsvertreter und weiß nicht, welche Erinnerungen er verwaltet. »Das Chabanais? Natürlich!«, sagt ein Stammgast des bistrots schräg gegenüber der Nationalbibliothek. Er tritt auf die Straße, um
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