Lesereise Paris
Stipendium nach Frankreich. Jetzt ist sie eine von dreißig Nummern in Leilas Notizbuch. Sie notiert ihren Abendtermin. Die letzte Verabredung absolvierte Muna zusammen mit anderen Mädchen in der Pariser Residenz eines saudischen Geschäftsmanns, der für einen Golden Boy aus Riad eine Abschiedsparty gab. Die Nacht brachte Muna tausend Euro und ein solides Schmuckstück. Eigentlich hatte es ihr Kurzzeit-Gefährte seiner Frau zugedacht.
Am industriellen nördlichen Teil des Ringboulevards, der nach Napoleons Marschall Ney benannt ist, lädt ein Kleinbus spät am Abend sechs Straßenmädchen aus. Sie sind zwischen siebzehn und zweiundzwanzig, alle schmächtig, alle drogensüchtig wie ihre Zuhälter, die sie von Weitem beobachten. Hier sind die Tarife niedrig, zwanzig bis fünfzig Euro, aber die Risiken hoch. Für die billigen Mädchen ist es keine schöne Zeit. Doch das war für ihresgleichen auch die Belle Époque nicht.
Nach keiner von ihnen hätte Martholdi seine Freiheitsstatue modelliert, er holte sich dafür »Grande Céline« aus einem Haus in der Nähe der École Militaire. Sie wären nicht unter den »Demoiselles von Avignon« gewesen, die Picasso im Grand 5 malte. Und kein van Gogh hätte einer von ihnen am Weihnachtsabend sein frisch abgeschnittenes Ohr ins »Lupanar von Arles« geschickt.
Toulouse-Lautrec nannten die Mädchen in der Nummer 6 der Rue des Moulins wegen seiner verkrüppelten Gestalt »Kaffeekanne«. Er bezog dort, nur einen Sprung vom Chabanais, zeitweilig Wohnung. Auch in einem Bordell in der Rue d’Amboise hatte er gehaust. Von seinen Werken tragen siebenundsechzig den Vermerk »gezeichnet (oder gemalt) in einem geschlossenen Haus«. An der Stelle seines »Salon de la rue des Moulins« arbeitet heute hinter Scherengitter und Milchglasscheibe ein Zahnarzt.
Hinter einer Fassade aus den zwanziger Jahren führt in der Nummer 50 der Rue Saint-Georges eine lange Treppe mit rotem Läufer zum ersten Stock empor. Es heißt, der Reichsmarschall Hermann Göring sei in den hohen Räumen des Erdgeschosses geblieben. Das ganze Viertel wurde abgesperrt, wenn er kam. In der Pariser Hauptsynagoge zwei Querstraßen abwärts herrschte derweil Angst. Auch jetzt werden das Israelitische Konsistorium, gleichfalls in der Rue Saint-Georges, und die Synagoge um die Ecke streng bewacht. Die Posten der kasernierten Polizei CRS tragen stets schussbereite Maschinenpistolen und stecken in kugelsicheren Westen.
Das St.-Georges war von den Deutschen als Offiziersbordell requiriert, genau wie das Chabanais oder das Haus in der Rue des Moulins. Ein zeitgenössisches Merkblatt für die Benutzer nennt neben der Adresse jeweils die Metrostation und die nächste Sanierstelle für Geschlechtskrankheiten. Dass die Puffwirte und ihre Verwalterinnen – die ausführende Macht lag immer in den Händen einer Frau – mit der Besatzung kollaboriert hätten, war ein wirksames Argument für die Schließung.
Dennoch, ohne Marthe Richard wäre es dazu wahrscheinlich nie gekommen. »La veuve qui clôt« (die Witwe, die zusperrt) – so wurde sie unter Anspielung auf die bekannte Champagnermarke genannt – war eine farbige Figur. Vor 1914 war sie eine der ersten fünf Pilotinnen Frankreichs. Während des Krieges wurde sie Agentin des französischen Geheimdienstes und in dessen Auftrag Geliebte des Chefs des deutschen Marine-Nachrichtendienstes in Spanien. In einem Film aus den dreißiger Jahren idealisierte Edwige Feuillère diese Episode. Den Boche spielte Erich von Stroheim.
Als populäre Stadträtin von Paris führte Marthe Richard unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Kampagne gegen die Bordelle. Was als Stadtverordnung gedacht war, wurde mit Unterstützung der Kommunisten und Sozialisten in der Nationalversammlung zum Gesetz. Marthe Richard setzte ferner durch, dass die Dirnen-Karteien der Sittenpolizei vernichtet wurden. Die Erben von Fouché, des gefürchteten Polizeiministers von Napoleon, führen solche Befehle zwar aus – aber nicht ohne vorher Kopien zu machen. So konnten die Feinde der Witwe leicht herausfinden, dass die geborene Marthe Betenfeld, lange bevor sie die Freudenhäuser abschaffte, selber anschaffen gegangen war. In Nancy war sie von 1905 bis 1907 unter der Nummer 640 als Prostituierte registriert. Ein Spezialist für dieses Thema, Alphonse Boudard, weist in seinem Buch »La fermeture« nach, dass Marthe zehn Monate des Jahres 1906 wegen ansteckender Krankheit zwangsweise im Spital verbrachte. Als
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