Lesereise Paris
hoffentlich schneller seinen verbesserten Flächennutzungsplan erhalten, der seine kleinen Häuser, seine Ateliers, seine Gärten und seine Sozialstruktur erhält.
Vom Mons Martis, dem römischen Marsberg, wo der heilige Dionysius im dritten Jahrhundert gerichtet wurde, trug er sein Haupt noch zehn Kilometer nach Norden an die Stelle des heutigen Saint-Denis. Die Pariser entdeckten im 19. Jahrhundert, dass man sich auf dem Märtyrerberg auch amüsieren konnte. Der hundertdreißig Meter hohe Hügel gehörte noch nicht zur Stadt. Die Lokalsteuer, der octroi , galt dort nicht. Der Wein war billiger. Einige der Schenken, in denen man trank, den Sängern zuhörte und tanzte, existieren noch – als Touristenfallen. Andere wurden zu Bauobjekten: Der Moulin de la Galette verwandelte sich während der siebziger Jahre in ein teures Appartementhaus.
Fast alles, was Fremde interessiert, spielt sich auf der Spitze des Hügels, einer Fläche von nur sechs Hektar, ab, eigentlich auf noch weniger, denn die Straßen machen ganze zwei Hektar aus. Auf die Idee, dass die Place du Tertre »eine graue versponnene Waldlichtung« sein könnte, die einen Traum in urzeitlichem Violett träumt, wäre der Schriftsteller Alfred Andersch ein halbes Jahrhundert später kaum mehr gekommen. Sie ist frisch gepflastert und hat neue, noch magere Bäumchen erhalten. Fast dreihundert Maler mit städtischer Lizenz (Mindestalter achtzehn Jahre, Berufsnachweis, sauberes Führungszeugnis) fischen vor überfüllten Restaurant-Terrassen im Touristenstrom.
Eigentlich müssten sie ihre Genre-Bildchen an Ort und Stelle malen, aber viele verkaufen nur Meterware mit Montmartre-Gassen, oft mit falscher Perspektive, damit auch der Eiffelturm, das Moulin Rouge und Notre-Dame zu sehen sind. Ganz Verworfene benutzen Staffelei und Pinsel nur als Dekoration, setzen aber fernöstliche Billigproduktion ab. Der große Inspirator ist Maurice Utrillo, zu Recht, denn als Einziger außer Toulouse-Lautrec malte er Montmartre-Sujets. Die anderen Großen von Manet bis Picasso arbeiteten nur auf dem Hügel, weil die Mieten niedrig oder die Freunde schon dort waren.
Im Untergrund ist der Montmartre brüchig wie ein schlechter Zahn. Rund zweieinhalb Millionen Kubikmeter gipshaltigen Stein hat man im Lauf der Jahrhunderte aus Stollen, Löchern und Galerien gegraben. Die tiefsten davon liegen siebenundzwanzig Meter unter Tage. Manchmal senkt sich ein Trottoir oder ein Keller, wenn in der Tiefe alte Höhlen einstürzen. Das Bauen ist rentabel, aber schwierig. Neue Gebäude werden auf unterirdische Betonpfeiler gesetzt.
Die Leute vom Montmartre waren immer rebellisch. Sie nennen sich »Freie Gemeinde«, »Republik«, sind stolz auf den letzten Weinberg von Paris und bringen mehr Bürgerinitiativen hervor als andere skeptische Pariser. Wiederholt ist es ihnen gelungen, den Bau einer unterirdischen Garage zu verhindern, der eine ihrer Grünflächen gefährdet hätte. Die Stadt gab nach. Immerhin hat die Pariser Kommune, die 1871 das Rathaus niederbrannte, mit einem Aufstand des Montmartre angefangen.
Wenn Toulouse-Lautrec das noch erlebt hätte!
In die Jahre gekommene Verruchtheit
Wenn Toulouse-Lautrec das noch erlebt hätte! Das Touristen-Menü zu hundertfünfzig bis hundertachtzig Euro, eine halbe Flasche Champagner, Steuern und Bedienung eingeschlossen; die Porno-Meile um die Place Pigalle; den Gala-Cancan im zweiten Jahrhundert seines Moulin Rouge, bei dem die Mädchen das Bein zugunsten einer so ehrbaren Sache wie – laut stolzer Ankündigung – die Menschenrechte heben, und nicht mehr bloß, weil sie wie einst »die Ausschweifung zur Profession gemacht« haben. Die kraftstrotzend-ordinäre »la Goulue«, mit bürgerlichem Namen Louise Weber, der biegsame Valentin le Désossé, die zarte Jane Avril, der ganze kurzweilig-kurzlebige, amoralische und anarchische Montmartre der Belle Époque – sie hätten den malenden Zwerg aus Königsgeschlecht noch stärker fasziniert.
Für Verruchtheit, die in die Jahre kommt und zur Institution wird, ist es nicht einfach, mit der eigenen Legende Schritt zu halten. Kein Tummelplatz zwischen Tanger und Tahiti, der nicht sein schummriges Moulin Rouge hätte: demi-monde für die ganze Welt. Als das Original am 6. Oktober 1889 eröffnete, versammelte sich der Adel des Blutes, des Geldes und des Unterrocks. Toulouse-Lautrec trank dreimal, viermal in der Woche Absinth und malte wie besessen. Die junge Colette sorgte für einen Skandal, weil sie
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