Lesereise Paris
Marthe Richard in ihr letztes Gefecht zog, war das Penicillin erfunden und die Französinnen hatten gerade das Stimmrecht erhalten.
»Sind die Damen nicht mehr da?«, fragte vorsichtig ein älterer Herr im Büro der Berufsvereinigung der französischen Gerberindustrie. Aber das ist auch schon etwas her. Er suchte an dieser Stelle noch das One-Two-Two. Fernandel und Jean Gabin waren dort bekannt, Sacha Guitry und Tino Rossi, Cary Grant und Humphrey Bogart, der Maharadscha von Kapurthala und König Leopold von Belgien, der wegen seiner Schwäche für eine Pensionärin Cleopold genannt wurde. Da man ins One-Two-Two, wenn man wollte, nur zum Essen gehen konnte, kamen auch Frauen, die etwas Halbweltluft atmen mochten, die Mistinguett und Marlene Dietrich, Martine Carol und Katharine Hepburn. Michel Simon hatte jahrelang ein Zimmer und gab »122 rue de Provence« als seine Adresse an. Wer ihn engagieren wollte, fand ihn hier. Der Hausbesitzer fuhr im letzten Vorkriegsjahr einen der beiden Cadillacs, die es in Paris gab.
Ahnungslos hat sich als neuer Nachbar des alten One-Two-Two mit glitzerndem Marmor und Glas die iranische Bank Tejarat angesiedelt: koranische Segensformeln im Schaufenster, Ayatollah-Porträts in der Halle. Schon der Verein der Bordellwirte (l’Amicale des Maîtres d’hôtels meublés de France et des Colonies) hatte eine hübsche Adresse. Rue Notre-Dame de Nazareth. Der Zufall macht seine Sache nicht schlecht. Das Haus Nummer 9, Rue Navarin, bediente hinter seiner strengen neogotischen Fassade Masochisten. Aber es war nicht billig, in dieser Kapelle durch Leiden selig zu werden. Hoch oben in einem verglasten Anbau der Nummer 10 in der Rue des Martyrs stehen verblichene Riesenfiguren eines Karnevals von ehedem. Ein Präsident des Senats starb hier leibhaftig, als das Haus noch den Freuden gewidmet war. In solchen Fällen genügte ein Anruf bei der Polizei. Honoratioren wurden unauffällig abgeholt, damit der Arzt anderswo Herzversagen konstatieren konnte.
Um einige Stammkunden des Sphinx zu besuchen, genügt es, quer über den Boulevard Edgar Quinet zum Montparnasse-Friedhof zu gehen. Die Spuren anderer verlieren sich überall auf der Welt. Gabriele d’Annunzio und Graf Ciano, der Schwiegersohn und Außenminister Mussolinis, waren darunter, die Hollywoodstars Gary Cooper und Errol Flynn, die Literaten Ernest Hemingway und Erich-Maria Remarque. Im Morgengrauen nach einer fröhlichen Nacht gingen Madame Martoune, ihre Mädchen und die Gäste gelegentlich zum nahen Boulevard Arago, um sich eine Hinrichtung durch die Guillotine anzusehen. Dann aßen sie zusammen in den Hallen Zwiebelsuppe. Rechte Zeitungen behaupten hartnäckig, dass Albert Sarraut, Premierminister in der Dritten Republik, am luxuriösen Sphinx finanziell beteiligt gewesen sei. Das Art-déco-Gebäude wurde nach der Schließung abgerissen und durch einen Neubau ersetzt.
Manchmal war es nur ein Schritt zur Sünde und nur ein Schritt zurück zur Absolution. Über dem Seitenportal der Kirche Saint-Sulpice weisen zwei steinerne Heilige auf das Haus schräg gegenüber, vormals Miss Beety. Die Hausnummer 36 besteht nicht aus dem üblichen blauen Schild aus Emaille, sondern aus einem großen Goldmosaik auf blauem Grund, die Ziffern frankiert von Zweigen eines Lebensbaums.
Solche Signale hatten Bordelle gern. Es ist verbürgt, dass Kleriker diesen Weg beschritten, verkleidet oder die Soutane unter dem Regenmantel hochgerafft. Verirrte Schafe konnten auch ins Haus Nummer 15 der Rue Saint-Sulpice gehen. Es war mit seinen Gängen so diskret angelegt, dass sie keinem bekannten Gesicht zu begegnen brauchten. Nun sind dort Wohnungen und ein Geschäft für antike Spiegel.
Alles stocksolide. Es gibt keine Sünde mehr, wenig Bedarf für Vergebung und gar keine Bordelle.
Eine schöne Hülle, warum nicht?
Die Memoiren der Brigitte Bardot
In der französischen Zeitgeschichte gibt es »les trente glorieuses«, die ruhmreichen dreißig Jahre. Man kannte damals keine Arbeitslosen, regelmäßig stiegen die Einkommen. Die Studenten, denen künftige Arbeitgeber bis in die Hörsäle nachliefen, langweilten sich am Ende so sehr, dass sie 1968 die Revolution probierten. Frankreich wurde in jenen Jahrzehnten von einem Agrarland zu einer modernen Industrienation mit Atombomben, Überschallflugzeugen und Badezimmern. Und es gab B. B., von der General de Gaulle einmal sagte, sie bringe dem Land mehr Devisen ein als der Autokonzern Renault.
Genau in dem Augenblick,
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