Lesereise Paris
den Weg zu weisen. »Aber es ist nichts davon erhalten. Sie haben damals alles herausgerissen. Schade. Heute stünde es unter Denkmalschutz.«
Das Chabanais war das berühmteste Luxus-Puff von Paris, wahrscheinlich der Welt. Es wurde 1878 für die damals horrende Summe von 1,7 Millionen Francs eingerichtet, mit wohlwollender Unterstützung des Jockey Clubs, des exklusivsten Zirkels im Lande. Mehrere Mitglieder hatten enge Beziehungen zu »Miss Kelly«, der ersten Betreiberin. Minister, Botschafter, Aristokraten und Nabobs aus aller Welt verkehrten hier gerne.
In der Halle stand angeschrieben »House of all Nations«. Es gab ein japanisches Zimmer, das zuvor auf der Weltausstellung einen Preis gewonnen hatte, einen Salon Louis XVI., ein indisches, ein pompejanisches und ein maurisches Kabinett. Letzteres ließ sich der Dichter Guy de Maupassant in seiner Villa am Meer nachbauen, um es während der Ferien nicht entbehren zu müssen.
Der Prince of Wales, der spätere König Edward VII., hatte im Chabanais einen Privatsalon mit seinem Wappen am Himmelbett. Es dürfte die wahre Grundlage der Entente cordiale, des späteren Bündnisses zwischen Britannien und Frankreich gewesen sein. Im Übrigen hatte der Raum nichts Viktorianisches. Es gab ein kurioses Sitzgerät, über das viel spekuliert wurde und das den Thronfolger von mehreren Seiten zugänglich machte. Es gab auch eine große Wanne aus rotem Kupfer mit einem Schwan als Galionsfigur. Der Prinz ließ sie mit Champagner füllen, um darin mit seinen Gespielinnen zu baden. Als die Einrichtung des Chabanais nach der Schließung versteigert wurde, erwarb Salvador Dalì die Wanne für hundertzwölftausend Francs. Was weiter aus ihr wurde, ist nicht übermittelt. Die Protokollabteilung des Elysée nahm das Chabanais ins Besuchsprogramm ausländischer Staatsgäste auf. Neben einem Gala-Abend in der Oper oder einem Empfang im Rathaus figurierte es unter dem Tarnnamen »Visite beim Präsidenten des Senats«. Dieser soll sehr überrascht gewesen sein, als ihn eine luxemburgische Prinzessin tatsächlich aufsuchte. Das siebenbändige Larousse-Lexikon von 1906 widmete dem Chabanais einen Artikel. Seit den zwanziger Jahren konnte das Haus gegen Trinkgeld auch von Familien besichtigt werden. In den übrigen Räumen ging das Geschäft weiter.
Auffallend viele Japaner schreiten suchend die Straße ab. In ihrem Reiseführer ist ein Nebenhaus mit roter Laterne verzeichnet, das Restaurant Hokkaido. Auf Nummer 4 will die Bar Le César mit unzulänglichen Mitteln den Geist des Ortes beschwören. Derzeit machen die barbusigen Hostessen Ferien. Im September, so verspricht ein Zettel, kommen sie »schön und gebräunt« zurück. Im Chabanais selbst ist nichts Einschlägiges mehr los, obwohl sich im Hauptgeschoss ausgerechnet eine Agentur für Hostessen und Sekretärinnen niedergelassen hat. Doch der Schein trügt. Die Angestellten arbeiten mit Akten und Computern und nur zu Bürozeiten.
Bei Umfragen wären achtundsechzig Prozent der Franzosen dafür, wieder Bordelle zuzulassen. Denn die Prostitution ist nicht verringert, sondern nur unkontrollierbar geworden. Zwischen vierhundert und sechshundert »Begegnungs-Klubs« sind in der Hauptstadt aktiv. Die schäbigen machen in Anzeigeblättern Reklame; bessere Adressen, die einen Hauch von verruchtem Luxus verheißen, werden unter der Hand weitergereicht. Auch die Vermittlung von Sexkontakten über Telefon und Internet floriert. Rund tausend Verfahren wegen Zuhälterei werden alljährlich eingeleitet. Paris hat in Europa den höchsten Anteil an HIV -Positiven.
Die blonde Vera heißt nicht Vera und ist auch nicht wirklich blond. Eine sogenannte Heiratsagentur, die sie aus Moskau holte, schärfte ihr als Erstes ein, dass die Klienten keine dunkelhaarigen Russinnen wollen. Vera wurde vermietet und sah wenig Geld, bis sie der Organisation entfloh, mit abgelaufenem Visum herumirrte und in der Metro übernachtete. Durch eine Freundin geriet sie an einen anderen, teuren Callgirl-Ring, der ihr ein Drittel der Honorare abnimmt. Nach Spesen kommt sie heute auf fünftausend Euro im Monat. Wenn alles gut geht, möchte Vera in einem Jahr wieder ihren wirklichen Namen tragen und eine Boutique in Moskau haben.
Muna sitzt auf einer Café-Terrasse an den Champs Elysées, trinkt ein Glas Tee und raucht. Als sie das piepende Handy aus ihrer Handtasche nimmt, erkennt sie die Stimme von Madame Leila. Muna kam ursprünglich mit einem schmalen marokkanischen
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