Lesereise Paris
gestohlenen Autos Rodeo zu fahren. Die Wagen wurden nach der Art von Stock-Car-Rennen verbeult und am Ende angezündet. Frankreich nahm wahr, dass es eine zweite Generation von Einwanderern gab, die in einem seelischen Niemandsland zwischen Nordafrika und Europa lebt. In ihrem eigenen Jargon, der wie die Gaunersprache verlan französische Wörter umdreht, nennen sie sich beur (von arabe ). Die Polizisten heißen für sie kef (von flic ), aus français wird sefran .
Das Rodeo ist bis heute eine der Lieblingsbeschäftigungen asozialer Banden. In den acht Wochen, bevor in Mantes jene Polizistin umgebracht wurde, sind dort drei Dutzend Wagen gestohlen, zu Schrott gefahren und verbrannt worden. In Vaulx-en-Velin bei Lyon verlor die Polizei an einem einzigen Tag vier Autos, die von Rodeofahrern gerammt wurden. Die vermummten Täter flohen zu Fuß. Fingerabdrücke hinterließen sie keine. Die jungen Kriminellen umwickeln sich die Hände mit Leukoplast oder streichen sich die Fingerkuppen mit Leim ein. Durchschnittlich verbrennen in jeder Nacht zwischen dem Kanal und dem Mittelmeer hundert Autos, davon ein Teil durch Brandstiftung zum Versicherungsbetrug, ohne dass darüber viel geredet oder geschrieben wird. Berüchtigt ist die Silvesternacht, besonders in Straßburg. Binnen Stunden gehen in den Vorstädten landesweit Hunderte von Wagen in Flammen auf.
Rauchgeschwärzte Wände, frisch installierte Scherengitter: Das Einkaufszentrum im Neubauviertel Val-Fourré bei Mantes trägt noch die Narben der großen Brandschatzung vom Frühling. Einige Geschäfte haben zaghaft geöffnet. Der große Supermarkt, die wichtigste Einkaufsquelle für siebenundzwanzigtausend Menschen, schloss schon im Winter. Die Diebstähle hatten zehn Prozent des Umsatzes erreicht (normalerweise rechnen vergleichbare Geschäfte mit einem halben Prozent). »Gegenüber den Demonstrationen, den Gewalttaten standen wir mit dem Rücken zur Wand«, sagt Edouard Leclerc, Chef einer der größten Supermarktketten Frankreichs. »Es wird in unseren Zentren keine Miliz geben. Wir verwandeln sie nicht in Garnisonen. Weil die Polizei mit verschränkten Armen zuschaut, müssen wir lernen, keine Masochisten zu sein. Wir ziehen uns aus den Gettos zurück.« Immer wieder waren Diebesbanden wie die Heuschrecken über die Regale hergefallen. Leclerc: »Sie nehmen alles, was sie wollen. Unsere Kassiererinnen werden mit Messern und mit Fahrradketten angegriffen. Das können wir nicht zulassen.«
Die Väter der beurs kehrten die Straßen, leerten die Aschentonnen und sorgten am Rande der französischen Gesellschaft mit ihren Basaren ähnelnden Kramläden, islamischen Metzgereien und überfüllten Männer-Kaffeehäusern für eine gewisse schäbige Exotik. Sie waren zufrieden. Ihre Söhne und Enkel leben im doppelten Hass auf die traditionellen Wertvorstellungen ihrer Familie und auf das Land, das ihnen großzügige Sozialleistungen, Nachsicht gegenüber ihren Ausschreitungen, aber heute keine Perspektive mehr gibt. »Wenn sie alles zusammenschlagen, dann explodiert damit ein Gefühl der Frustration«, sagte einst prophetisch Premierministerin Edith Cresson. »Sie haben nichts und wollen etwas haben. Aber was sie neben Geld vor allem wollen, das ist, sich ausdrücken, verstanden werden.«
Eine Diagnose, aber keine Therapie. Schon Georges Clemenceau sagte: »Wenn man nicht weiß, was man tun soll, bildet man eine Kommission.« Ausschüsse und Programme zur Rettung der Vorstädte gab es seit 1977 in großer Zahl. Soeben hat die Regierung wieder ein Sonderprogramm beschlossen, diesmal anspruchsvoll »Marshall-Plan« genannt, zur Eindämmung der Gewalt in den Vorstädten, zur Arbeitsbeschaffung für Jugendliche mit schlechter Ausbildung und zur sozialen Integration der renitenten Kinder und Enkel von Einwanderern. Doch nichts ändert sich. Es fehlt das Geld, es fehlen die Einzelbestimmungen, es fehlt auf allen Seiten der konsequente Wille. Auch das neueste Projekt verblasst bereits zur Makulatur.
Ihr Viertel »Le Mas-du-Taureau« bei Lyon war in die Schlagzeilen gerückt, als nach dem tödlichen Zusammenstoß eines jugendlichen Motorradfahrers mit einem Polizeiwagen Unruhen ausbrachen. Doch die Routinebilder randalierender Jugendlicher, defensiver Postenketten, züngelnder Flammen und splitternden Glases verbargen die Wahrheit mehr, als sie sie enthüllten: Der Mas-du-Taureau ist kein vernachlässigter Slum. In den verflossenen Jahren hatten Staat und Gemeinde bereits
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