Lesereise Paris
unternimmt die Stadt energische Schritte, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Sie lässt hôtels industriels einrichten, in denen Gewerbetreibende Werkstätten mieten können. Aber während für eine Werkstatt in einem bröckeligen Sanierungsbau umgerechnet immer noch siebzig Euro Jahresmiete pro Quadratmeter bezahlt werden, sind die städtischen Lokale dreimal teurer. Jedes Jahr werden in Paris hundertfünfzigtausend Quadratmeter gewerbliche Fläche abgerissen, nur fünfzigtausend Quadratmeter entstehen neu.
Nichts wäre falscher, als aus solchen Zahlen den Schluss zu ziehen, die Wirtschaftskraft der Stadt sei rückläufig. Zwischen Étoile und der Oper hat die Hälfte von Frankreichs Banken ihren Sitz. Hinter ihren Namen stehen zwei Drittel der Bilanzsummen und mehr als die Hälfte ihrer Beschäftigten. Jedes französische Unternehmen, das auf sich hält, will einen Sitz in der Hauptstadt. Die sechzigtausend Betten ihrer Hotels sind einen großen Teil des Jahres ausgebucht. Handel und Dienstleistung haben Dauerkonjunktur.
Immobilienpreise und Mieten stiegen lange. Dass Paris dadurch eine Stadt für Reiche oder ganz Arme geworden ist, lässt sich am Straßenbild ablesen, das sich rasch verändert. Fachgeschäfte, kleine Lebensmittelläden, Bäcker, Schneider, Käsehändler geben auf, spätestens wenn sich der Inhaber zurückzieht und keinen Nachfolger findet. Wo es chic ist, wie im sechsten oder siebenten arrondissement , eröffnen Boutiquen, Antiquitätenläden, Blumengeschäfte und Immobilienagenturen. Weniger ansehnliche Straßen werden von billigen Schuhgeschäften, von Pizza- und Hamburger-Stuben, von Läden, die Restposten und Sonderangebote verschleudern, von Schnellreinigungen und Telefonagenturen okkupiert. Nach Ladenschluss gibt es keinen Grund mehr, durch verödete Gassen zu gehen, in deren Obergeschossen sich vorwiegend Büros befinden. Das ist auch anderswo so, aber Liebhaber wie der Historiker Louis Chevalier finden, dass Paris keine beliebige Stadt, sondern ein nicht wiederholbarer Glücksfall war. In einem Buch mit dem Titel »Die Ermordung von Paris« schrieb der Professor schon vor bald dreißig Jahren, als die Schäden noch weniger offensichtlich waren, die clochards seien die Nachhut der wirklichen Liebhaber von Paris. Als Letzte wüssten sie die Stadt zu schätzen, als Platz, in dem man umhergehen, sitzen, liegen und schlafen könne. Ein weiteres Alarmsignal ist seither hinzugekommen.
Ein Bodennutzungsplan sieht vor, dass auf hundert Quadratmeter Grundfläche in Zukunft dreihundert Quadratmetern Wohnfläche oder Büros errichtet werden können, statt bisher zweihundertsiebzig. Im Erdgeschoss soll die Ansiedlung kleiner Betriebe begünstigt werden. Grünflächen sollen besser geschützt sein. Hotels an der Peripherie wird auferlegt, für je fünf Zimmer statt für bisher acht einen Parkplatz vorzusehen. Es soll nicht mehr erlaubt sein, unter Grünanlagen Tiefgaragen zu bauen, die die Bäume ruinieren, wie auf der Place St.-Sulpice. Dort hatte man wie an anderen Stellen geschworen, die Entfernung der Bäume sei nur vorübergehend. Doch die Setzlinge, die man an ihre Stelle pflanzte, kümmern im Auspuffgas dahin.
Immer war Paris fasziniert von seinem Untergrund. Die Steinbrüche, die sich unter dem Montmartre und vom Panthéon bis zum Montparnasse hinziehen, dienten schon im 18. Jahrhundert den Schmugglern, die die Zollmauer um die Stadt unterliefen, als Wege und Lagerstätten. Junge Leute, die die Einstiege kennen und Lust am Gruseln haben, feiern dort wieder makabre Feste. Im 19. Jahrhundert erregte die Kanalisation die Fantasie von Schriftstellern wie Victor Hugo, aber auch von Kriminellen. Heute sind es vor allem die Tiefgaragen, in denen sich die Nachtseite der Stadt offenbart. Diebe und Dealer, Sexualtäter und Besessene bewegen sich, ohne es zu wissen, in einer seit alters her milieugerechten Schattenwelt.
Vor mehr als hundert Jahren prophezeite der Automobilpionier Louis Renault, durch die Einführung seiner Motorkutschen werde sich das leidige Problem der Verkehrsstauungen in Paris lösen lassen. Denn auf der Fläche eines vierspännigen Pferdewagens hätten sechs Benzinkutschen Platz. Da seine Erwartungen sich nicht erfüllten, forderte Präsident Georges Pompidou in den sechziger Jahren, man müsse »die Stadt dem Auto anpassen«. Nach der Fertigstellung des périphérique , des Autoringes um Paris, wurde unter seiner Herrschaft die Expressstraße rive droite angelegt. Sie
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