Lesereise Paris
ruinierte die Seine-Quais, erlaubt es aber immerhin, das Stadtgebiet verhältnismäßig schnell und kreuzungsfrei in west-östlicher Richtung zu durchqueren. Die Pläne für eine Expressstraße rive gauche in der Gegenrichtung wurden nach Pompidous Tod von seinem Nachfolger Valéry Giscard d’Estaing aufgegeben. Auch ein Projekt für Radialstraßen, die von der Peripherie ins Zentrum führen und sich in einem gigantischen Verkehrskreisel unter den ehemaligen Hallen treffen sollten, wurde fallen gelassen. Sie hätten die Stadt in Segmente zerschnitten.
Gegenwärtig beträgt die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit der Pariser Autofahrer siebzehn Kilometer in der Stunde. Alljährlich nimmt der Verkehr um drei Prozent zu, und der Sättigungspunkt ist fast erreicht. An den Rändern der Straßen, in den Garagen, Höfen, Parkplätzen ist legal Raum für siebenhundertzwanzigtausend Wagen. Von den Pariser Haushalten besitzen zweiundfünfzig Prozent kein Auto. Die Hauptstadt hat die niedrigste Mobilisierungsquote des Landes. Aber zwei Millionen Fahrzeuge aus der näheren und weiteren Umgebung wollen täglich in oder durch die Stadt. Zu Stoßzeiten zählt die Polizei siebenhunderttausend legal geparkte Autos, hunderttausend verboten geparkte und hundertzwanzigtausend in langsamer Bewegung.
Seit einigen Jahrzehnten gilt die alte Pariser Regel nicht mehr, dass Geschäfte nachts beliefert werden müssen. Kein Lieferant wird bestraft, wenn er eine Straße mit nur einer Fahrbahn blockiert. Jeder Polizist sieht tatenlos mit an, dass Autofahrer in Kreuzungen einfahren, auch wenn sie jenseits nicht weiter können. Hundertmal am Tag bricht der Verkehr zusammen, breiten Staus sich minutenschnell von Ampel zu Ampel aus, wird in ohnmächtiger Wut in den Straßenschluchten gehupt.
Eine Milliarde Stunden verwarten Autofahrer alljährlich in Staus. Niemand stellt den Motor ab, und die Menge des im Stadtgebiet verbrannten Treibstoffs ist dadurch binnen eines Jahrzehnts um fünfundzwanzig Prozent auf jährlich 1,1 Milliarden Kubikmeter gestiegen. An Durchgangsstraßen wird alle drei Jahre ein Fassadenputz nötig, trotzdem werden nicht einmal mögliche Verbesserungen durchgesetzt. Die Metro und die RER -Vorortsbahn geben sich Mühe. Aber sie bewältigen den Andrang in Stoßzeiten immer weniger. Die Zahl der Taxis wurde 1967 auf vierzehntausenddreihundert beschränkt und ist seither nur etwa um zweitausend erhöht worden. In den dreißiger Jahren gab es fast doppelt so viele Mietkutschen, aber die Stadtverwaltung nimmt die Drohungen der Taxilobby ernst, dass die Chauffeure bei zusätzlicher Lizenzvergabe mit massiven Verkehrsblockaden reagieren würden. Unter diesen Umständen sind drei Viertel der Vorstadtbewohner entschlossen, weiter das eigene Auto zu nehmen.
Die Stadtregion jenseits der Pariser Grenzpfähle ist riesengroß geworden. Sie umfasst individuell – und planlos – in die Landschaft gesetzte Einfamilienhäuschen, schlichte Vororte aus der Gründerzeit, schnell gebaute Betonslums aus den fünfziger und sechziger Jahren, alte Dorfkerne sowie die Satellitenstädte Marne-la-Vallée, Evry, Melun-Senart, Cergy-Pontoise und Saint-Quentin-en-Yvelines. Setzt man die Grenze bei ihnen an, so hat die Stadtregion sechzig bis achtzig Kilometer Durchmesser und zehn bis zwölf Millionen Einwohner.
Geht man von der Vorstellung aus, dass auch Fontainebleau im Süden und Chantilly im Norden zum Pariser Einzugsgebiet gehören, dann vergrößert sich der Durchmesser der Siedlungsregion auf hundertzwanzig Kilometer. Jeder fünfte Franzose wohnt in der Region. Sie ist Frankreichs wichtigstes Industriegebiet und hat durch ihr Entstehen auch die politische Geografie verändert. Die Hauptstadt selber wurde durch den Wegzug der Arbeiter konservativ und bürgerlich. Dafür entstand in den Vororten ein roter Ring, der bis in die jüngsten Jahre von den Kommunisten beherrscht wurde.
Wer Franzose ist, entscheidet die Geburt oder die Einbürgerung. Pariser zu sein ist eine Frage des Selbstwertgefühls und der Einschätzung durch die Umgebung. Ein Sechstel der Bewohner der Region sind Ausländer. Nicht bloß fünfhundertfünfzigtausend Gastarbeiter sind darunter. Von den zwölfhundert in Frankreich vertretenen deutschen Unternehmen sind mehr als die Hälfte in der Île-de-France ansässig, von siebenhundert amerikanischen Firmen über zweihundert.
Besonders hoch ist der Anteil ausländischer Beschäftigter mit dreißig Prozent in einem Gewerbe, das als
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