Lesereise Paris
der Spitzhacke und den Bulldozern zum Opfer gefallen: Quartiere mit Mauerschwamm und steilen Treppen, aber ohne Bäder oder wohnungseigene Toilette; ländlich kleine Häuser mit Hinterhöfen, winzigen Gärten, Ateliers und Werkstätten; Zinshäuser, die der jahrzehntelange Mietstop zum Verfall verurteilt hatte; billige Hotels für Dauermieter; enge Straßen mit geschlossenen Häuserfronten und wenig Durchgangsverkehr; schmalbrüstige Wohnungen mit Kaminheizung; Alleebäume für Hunde und blecherne Bedürfnisanstalten für Männer, die trotz ihres Geruchs vespasiennes genannt wurden, weil jener römische Kaiser bei der Einführung der ersten Toilettensteuer gesagt hatte, Geld stinke nicht.
Was abgerissen wurde, war das alte Paris, ein unkomfortables schäbiges Paris, ein menschlicher Lebensraum für kleine Freuden, für anständiges Essen, für verliebte Individualisten und Exzentriker, für gelegentliche Ausbrüche von Gewalt, ein Paris, gut genug für Hemingway und René Clair, für Modigliani und Musette.
Sein Untergang war nicht geplant, er ergab sich einfach. Bodenspekulation muss nicht unbedingt vernichtende Folgen haben. Auch bei der Errichtung der Place Vendôme, einem der schönsten Ensembles der Stadt, spielte sie vor dreihundert Jahren schon ihre Rolle. Die promoteurs genannten Baulöwen der Gegenwart hatten nichts Derartiges im Sinne. Ihre Interessen deckten sich weitgehend mit denen der hohen Regierungsbürokratie. Paris müsse »neu gedacht« werden (»il faut repenser Paris«), sprach die technokratisch geschulte Elite im Staatsdienst.
Ein wenig bekannter Erlass der Stadtverwaltung vom März 1956 hob die Beschränkung der Bauhöhe auf einunddreißig Meter auf, die seit den Zeiten Ludwigs XVI. gegolten hatte. Die Höhe eines Bauwerks wird seither von einem Blickwinkel bestimmt, den ein Betrachter des Dachsimses vom jenseitigen Trottoir aus genießt. Je weiter ein Haus von der Straße zurückliegt, umso höher darf es sein. Was ein Bauherr an Volumen in der Tiefe verliert, gewinnt er mehrfach in der Höhe. Vorbei war es mit den noblen Fassaden, den geschlossenen Baulinien, den grauen Dächern aus Schiefer oder Blech, die das historische Gesicht der Stadt bestimmten. Bald soll es auch nahe der Stadtgrenze am Autobahnring wieder neue Hochhäuser geben.
Als man die Tour Montparnasse baute, die mit ihren zweihundertzehn Metern wie ein drohender Finger in den Himmel des Luxembourg-Gartens, der Seine-Quais, der Esplanade vor dem Invalidendom und vieler anderer Pariser Perspektiven ragt, bot man den aus ihren Behausungen vertriebenen Malern und Bildhauern Ateliers im Hochhaus an. Es war gut gemeint, aber sie wollten nicht. Auch Braque und Utrillo hätten sich in Mietskasernen nicht wohl gefühlt.
Andere konnten sich das neue Paris aus Beton und Glas nicht leisten. In zwanzig Jahren verlor die Stadt zweihundertfünfzigtausend Arbeiter, Handwerker und Kleingewerbetreibende. Unter den im Berufsleben stehenden Parisern machen die Arbeiter nur noch ein Sechstel aus. Und ein Drittel von ihnen muss inzwischen zur Arbeit aus der Stadt in die Vororte fahren: Pendler in umgekehrter Richtung. Die Pariser Industrie, die zur Jahrhundertwende sechshundertvierzigtausend Arbeitsplätze und Anfang der siebziger Jahre noch vierhunderttausend bot, ist auf hundertfünfzigtausendStellen geschrumpft. Nur noch ein Drittel von ihnen hat unmittelbar mit der Produktion zu tun. Jeden Monat schließen Gewerbebetriebe. Große Unternehmen wie Citroën, dessen ehemaliges Fabriksgelände am Quai de Javel zu einem Park umgestaltet wurde, wandern ab, aber auch mittelständische und kleine Firmen. Insgesamt gibt es in Paris nur noch einige Dutzend Herstellungsbetriebe mit mehr als hundert Beschäftigten.
Die Rue du Faubourg St.-Antoine hinter der Bastille hat noch einige Möbelgeschäfte – aber die Schreinerwerkstätten in den Hinterhöfen, schäbige Monumente der Manufakturen des 19. Jahrhunderts, sperren zu. Im Marais, wo seit Generationen Lederwaren, Posamenten, Schmuck und Kunsthandwerk hergestellt wurden, wurde es stiller, als den Bewohnern der eingestreuten Adelspaläste, die zu luxuriösen Wohnungen umgestaltet wurden, auf die Dauer lieb sein konnte. Neue Betriebsamkeit, etwas steril, kam durch Boutiquen, Galerien, Souvenirgeschäfte, die alle das Gleiche verkaufen. Die Metallbearbeitung und Mechanik, traditionelle Metiers des neunzehnten und zwanzigsten arrondissements im Osten von Paris, dünnt aus.
Seit einigen Jahren
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