Lesereise Paris
weisen Schilder den kürzesten Weg. Eilige Touristen können alles andere links oder rechts hängen lassen. Natürlich bleibt es der Laune des Einzelnen überlassen, ob er beim Eiffelturm oder bei den Katakomben Schlange stehen will. Wer das reglementierte Warten nicht liebt, kann sich auch spontan um die Venus von Milo oder um die Place du Tertre schieben lassen. Auf ihr allerdings herrscht Einbahnverkehr. Wer das Geviert einmal betreten hat, kann weder umkehren noch aussteigen, bevor er den Ausgang erreicht. Auch darin ähnelt der Montmartre von heute einer Geisterbahn.
Letzte Meldung: Ein Londoner Sammler behauptet, er habe die echte Mona Lisa. Was in Paris hängt, sei nur minderwertige Nachahmung. Acht Millionen Besucher im Jahr können eben doch irren.
Der Untergang des alten Paris war nicht geplant
Spitzhacke und Bulldozer haben Platz geschaffen für neue Stadtviertel aus Beton und Glas
Die Bitte hörte sich einfach an, aber sie war nicht ganz leicht zu erfüllen. Freunde, die im Ausland leben, hatten sich ein paar Platten mit Musette-Walzern gewünscht, jener typisch pariserischen Musik, um die, seit es den Tonfilm gibt, kein Regisseur herumkam, der sein Publikum auf das Ambiente der französischen Hauptstadt einstimmen wollte. Musette gehörte dazu, so wie die Baskenmütze, das képi des flic und der Eiffelturm. Aber im ersten Musikgeschäft gab es keine Musette-Platte. Im zweiten auch nicht, erst im dritten, und dort keineswegs auf den vorderen Verkaufstischen.
Dass die Musette und die Tanzlokale, wo sie gepflegt wurde, abkamen, ist nicht allein eine Frage der Mode und des veränderten Geschmacks nachwachsender Generationen. Im Gegenteil, die zwei oder drei bals musette , die an Wochenenden noch stattfinden, sind eher dabei, Ziel nostalgischer Pilger zu werden, die nach verschütteten Edelsteinen schürfen. Musette ist nicht mehr gefragt, weil es nach den enormen sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die Paris in den letzten Jahrzehnten erstrebt oder erlitten hat, die Leute nicht mehr gibt, deren Seelenzustand solche Musik entspricht.
Das kleine Volk von Paris, die Handwerker, Arbeiter, Ladenbesitzer, Bistrowirte, Hausfrauen, Laufburschen, Marktschreier, Amüsiermädchen, Gauner, die innerhalb ihres Viertels fast in dörflicher Intimität lebten, stirbt aus. Ökonomische Zwänge haben sie in gesichtslose Vorstädte oder in produktivere Lebensformen getrieben. Es trägt ja auch niemand mehr eine Baskenmütze. Und es kann kein Zufall sein, dass das képi des Polizisten durch die Schirmmütze ersetzt wurde, oder dass der flic einen Sheriffstern trägt, aber keine Pelerine mehr.
Paris ist durch den Zweiten Weltkrieg in seiner Bausubstanz kaum berührt worden. Ein Wunder, sagt jeder, der am frühen Morgen, noch bevor der Autoverkehr einsetzt, über die Seinebrücken geht und auf die ebenmäßigen Fassaden dieser atemberaubend schönen Stadt unter ihrem seidengrauen Himmel blickt. Ein Albtraum sagten jene, die so viel sanierungsbedürftiges Gemäuer erbten. Denn von den meist schnell gewachsenen Metropolen unterscheidet Paris, dass es schon seit Langem eine große Stadt ist: »Der Ofen, in dem das Brot der Welt gebacken wird«, nannten es mittelalterliche Scholaren; die Rolle der Kapitale, die für einen immer größer werdenden Teil der Menschheit philosophierte, dichtete, politisch handelte und künstlerisches Neuland erschloss, kündigte sich an.
Als Ludwig XIV. seine Residenz nach Versailles verlegte, lebte in Paris eine halbe Million Menschen, die Million war um 1840 erreicht. Während der Präfekt Haussmann in den sechziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts die breiten Schneisen der Boulevards durch das Gassengewirr schlagen ließ, wohnten auf einer Fläche, die kaum kleiner war als das heutige Paris, schon 1,8 Millionen Menschen.
Seit dem Ersten Weltkrieg entstand nur noch wenig Neues. Dennoch hielt Paris intra muros , das eigentliche Stadtgebiet der zwanzig arrondissements , das durch den jetzigen Autobahnring umschlossen wird, zwischen 1921 und 1954 mit 2,7 bis 2,9 Millionen Einwohnern den höchsten Bevölkerungsstand. Auf einem Quadratkilometer Stadtfläche leben auch gegenwärtig, da Paris nur noch zwei Millionen Einwohner hat, zehnmal so viele Menschen wie in Hamburg.
Die Notwendigkeit, Wertvolles zu erhalten, und der Zwang, zu erneuern sind in Paris besonders schwer vereinbar. Seit die Stadt in den fünfziger Jahren zum großen Sprung vorwärts ansetzte, ist bald die Hälfte von Paris
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