Lesereise Prag
Vorstellungen das Abendmahl nicht nur in Form einer Hostie, sondern auch in Form von Wein zu sich genommen – eine Häresie, für die sie ins Gefängnis geworfen wurden. Die Kelchkommunion war nach katholischem Amtsverständnis dem Klerus vorbehalten, hingegen forderten die Hussiten den »Laienkelch«.
Und jene aufrührerische Masse, die da am 30. Juli 1419 unter Führung des radikalen Predigers Jan Želivský aus der Kirche »Maria im Schnee« vor das Neustädter Rathaus zog und Radau schlug, verlangte die sofortige Freilassung der Eingekerkerten. Der Bürgermeister, die Ratsherren und der Richter widersetzten sich, da stürmte die Menge das Rathaus und warf sie aus dem Fenster. Sieben Meter stürzten sie herab, und wer von ihnen den Aufprall am Boden überlebte, den metzelten die Aufrührer erbarmungslos nieder. Wenig später starb Böhmens König Wenzel IV., Sigismunds Bruder, der die Hussiten von allen Staats- und Kirchenämtern fernzuhalten getrachtet hatte. Es wurde das Fanal zu einer Revolution, die als Hussitenkrieg in die Geschichte einging und die ein Kernstück tschechischer Nationalidentität bildet.
Eigentlich kein Ereignis, das zu folkloristischer Wiederbelebung einlädt, und doch hat im Sommer 2009 die Verwaltung des zweiten Prager Stadtbezirks genau dies versucht. Sie nahm den fünfhundertneunzigsten Jahrestag dieses ersten Prager Fenstersturzes zum Anlass, die Prager Bürger und Touristen zu einem sommerlichen Schaustück auf den Karlsplatz vor dem Neustädtischen Rathaus einzuladen. Buden und Zelte waren aufgebaut, nach mittelalterlicher Art mit Wimpeln verziert. Dort gab es Bier und Wein und jene fetthaltigen Würste und Kartoffelpuffer zu kaufen, die der tschechischen Imbisskultur ihr eigenes Gepräge geben.
Zudem war eine historische Vereinigung aufgeboten, den Besuchern das Töpfern oder Brotbacken nach Art des 15. Jahrhunderts zu zeigen. Ein Henkersknecht führte seine Folterinstrumente vor, vier Musiker reproduzierten mittelalterliche Weisen, und zwei Soubretten erzählten vor einer Theaterwand die erschröckliche Geschichte des Sommers 1419. Der spektakuläre Höhepunkt war an einem Freitagabend die theatralisch unernste Wiederholung jenes Fenstersturzes, nachgestellt von Akteuren in historischen Kostümen und Stuntmen, die man sich beim Film auslieh.
Begleitet von Trommelschlägen zog die Truppe mit einer roten und einer schwarzen Fahne, auf der ein Kelch prangte, zum Rathaustor. Dort harrte wie 1419 eine vielhundertköpfige Menge – diesmal nicht aus religiösen Eiferern, sondern aus sensationshungrigen Bürgern und Touristen mit Digitalkameras bestehend. Vom Darsteller des radikalen Predigers Jan Želivský ließen sie sich animieren, wiederholt »Hr na ne!« (Auf sie!) zu schreien. Und binnen Kurzem flogen dann tatsächlich aus einem der hohen Fenster drei Kaskadeure im historischen Gewand mit gekonntem Salto hinunter auf den Platz, wo eine große, besonders fest gefederte Matratze sie zu unverletzter Landung empfing. Blut floss nicht bei diesem klamaukhaft überformten Gewaltakt, sondern Bier.
Dass die beiden anderen bekannten Prager Fensterstürze in ähnlicher Weise nachgestellt werden könnten, ist nicht zu erwarten. Die 1618 stattgehabte Defenestration, die das Signal zum Dreißigjährigen Krieg gab, wäre am Originalschauplatz, einem Seitenflügel des Alten Königspalais auf der Prager Burg, nur schwer zu wiederholen. Das Terrain ist abschüssig und Zuschauern kaum zugänglich, außerdem müsste der Staatspräsident als Burgherr seine Einwilligung geben. Was soll’s auch? Das einschlägig bekannte Fenster der einstigen Hofkanzlei, aus dem am 23. Mai 1618 eine Gruppe protestantischer böhmischer Adliger zwei Statthalter des katholischen Kaisers samt ihrem Schreiber hinausbeförderte, wird heute den Touristengruppen ja ohnedies bei jeder Führung ausgiebig gezeigt.
Der vorerst letzte in der Reihe der politisch spektakulären Prager Fensterstürze war vermutlich nichts anderes als ein gemeiner Mord, der mit der Machtergreifung der Kommunisten in der Tschechoslowakei in Zusammenhang stand. Am 10. Mai 1948 wurde im Innenhof des Außenministeriums der damalige Außenminister Jan Masaryk, ein Sohn des tschechoslowakischen Staatsgründers Tomáš G. Masaryk, tot aufgefunden, im Schlafanzug. Nach neueren Erkenntnissen hat ihn zwischen Mitternacht und Morgen jemand aus dem Fenster des Badezimmers seiner Dienstwohnung im obersten Stock hinausgestürzt. Als Täter kommt nach Angaben
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