Lesereise Prag
»Am besten hört man einen Text von Lenka Reinerová, gelesen von ihr selbst.«
Die im Juni 2008 im Alter von zweiundneunzig Jahren verstorbene Reinerová war bekannt als letzte deutschsprachige Autorin in Prag, und lauschte man ihrem Vortrag, so fiel nichts weiter auf als eine südlich-östliche Intonation und ein rollendes R. Jedenfalls ist Prager Deutsch nicht jenes »Böhmakeln«, als das die Wiener einst abschätzig den Akzent ihrer böhmischen Köchinnen bezeichneten. Und jedenfalls ist es nur noch schwer zu fassen, ebenso wie die deutschsprachige Prager Literatur. Jedenfalls in Prag.
Es gehört zu den Paradoxa der jüngeren Geschichte, dass der deutsch schreibende Prager Franz Kafka, der doch durch sein ganzes Œuvre den Spiritus loci zittern lässt, in aller Welt bekannt ist, aber kaum in Prag. Hätte nicht schon Kafkas Werk definiert, was kafkaesk ist, so wäre das Schicksal seines Werkes dazu geeignet. Erst 2007 lagen Kafkas Schriften vollständig auch in tschechischer Sprache vor, dreiundachtzig Jahre nach seinem Tod. Ein großes Kafka-Museum wurde in Prag erst 2005 eröffnet, gleich bei der Karlsbrücke – von einem Schweizer Unternehmer, erarbeitet hat die Schau das Zentrum zeitgenössischer Kultur in Barcelona. Die Besucher sind ganz überwiegend ausländische Touristen.
In Prager Buchhandlungen indes sind Kafkas Werke bei der tschechischen Literatur eingeordnet. Der Name ist ja auch tschechisch, er kommt im Lande vor, seine Träger sind Tschechen. Weder in Prag noch in München oder Wien kann man sicher sein, dass auch gebührend gelacht wird, wenn man die Posse von jener Amerikanerin erzählt, die angeblich Tschechisch lernte, um Kafka endlich im Original lesen zu können. Auch werden Rainer Maria Rilke, Franz Werfel oder Egon Erwin Kisch, die schon als junge Männer ihre Heimatstadt verließen und in der Welt zu Ruhm kamen, mitunter eher der österreichischen als jener deutschsprachigen Prager Literatur zugerechnet, der jetzt am Ort ihrer Entstehung nach fünfundsiebzig Jahren des Verfolgtwerdens, Verschweigens und Verdrängens zu neuem Ansehen verholfen werden soll.
Wie manche andere Metropole Mittel- und Osteuropas, die erst jetzt aus den Albträumen des 20. Jahrhunderts erwacht, war Prag unter der Herrschaft der Habsburger-Monarchie ein Ort mannigfaltigster Mischungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts freilich begegnete der erdrückenden deutschsprachig-österreichischen Dominanz die nationale Auflehnung der Tschechen. Böhmen beider Provenienz, die jahrhundertelang mit- und nebeneinander gelebt hatten, stellten sich nun gegeneinander, die demografische Umschichtung der industriellen Revolution spielte dabei eine große Rolle.
1890, als Werfel geboren wurde und Kafka, Rilke, Kisch gerade das Knaben- oder Jünglingsalter durchliefen, hatte Prag hundertdreiundachtzigtausend Einwohner, hunderttausend mehr als 1810. Waren bis etwa 1850 die Deutschsprachigen in der Mehrheit, so stellten sie jetzt nur noch fünfzehn Prozent, die Tschechen hingegen achtzig Prozent der Bevölkerung. Nach Religionszugehörigkeit sortiert: achtundachtzig Prozent Katholiken, zehn Prozent Juden, zwei Prozent Evangelische. Wobei im Bewusstsein der Zeitgenossen die Amtsstatistik vielfach oszillierte. Manchen waren die Unterschiede nicht wichtig, anderen dagegen sehr.
Kafka zweifelte selber, wo er einzuordnen sei. Einmal bezeichnete er sich als »Juden und überdies deutsch«, dann als »Halbdeutschen« oder »österreichischen Juristen, der ich ja im Ernst gar nicht bin«. Zwischen Deutschtum und Judentum schwankend fragte er in einem Brief an seine Geliebte Felice Bauer: »Bin ich ein Cirkusreiter auf zwei Pferden? Leider bin ich kein Reiter, sondern liege am Boden.« Der Wuppertaler Germanist und Kafka-Herausgeber Hans-Gerd Koch hat das Dilemma 2006 bei einem illustren Kafkaologen-Kongress in Prag schlüssig zugespitzt: »Sprachliche Meisterschaft und Liebe zur deutschen Sprache besagen wenig über nationale Zugehörigkeit in einer Region, in der tschechische Nationalisten deutsche Familiennamen trugen, deutschböhmische Autoren tschechische Namen und die grundlegende Grammatik der modernen tschechischen Schriftsprache von einem tschechischen Slawisten auf Deutsch verfasst wurde.«
Die meisten Prager Deutschen waren – im Gegensatz zu den an Böhmens Rändern siedelnden und erst nach dem Ersten Weltkrieg so genannten Sudetendeutschen – nicht sonderlich auf Abgrenzung bedacht, jedenfalls nicht im
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