Lesereise Schottland
Etwa hundert Meter vor uns beginnt sich das Wasser in einer Art Strudel zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, und schließlich kommt etwas Braunes, Glänzendes zum Vorschein. Es hebt sich immer weiter in die Luft, dreht sich langsam zu uns herüber und verharrt einen Moment lang regungslos. Dann sinkt es wieder hinab, und als es im See verschwindet, wird es vom Wasser mit einem gurgelnden Geräusch bedeckt. Kaum eine Minute später ist der See wieder spiegelglatt.
James Bond im Schottenrock
»Auld Reekie« – altes, rußiges Edinburgh: Die schottische Hauptstadt verdankt ihren Namen auch dem Arbeiterviertel Fountainbridge südwestlich der Altstadt. Doch viele der Schornsteine rauchen heute nicht mehr. Die »St. Cuthbert’s Cooperative«, die sich einst über vier Häuserblocks am Ostende Fountainbridges erstreckte, ist längst geschlossen, die Gebäude sind verfallen. In einer Seitenstraße liegt das moderne »Job Centre«. Arbeitsplätze sind jedoch Mangelware. Vor den Fenstern der benachbarten Firma Goldberg hängt ein Transparent über drei Stockwerke: »Geschlossen«. Auch die Gummifabrik am anderen Ende des Viertels, in der früher Hunderte von Menschen arbeiteten, ist verschwunden. Lediglich die Fountain-Brauerei, in der das McEwans-Bier gebraut wird, ist noch in Betrieb.
Im Schatten der weit ausladenden Brauerei liegt eine trostlose Siedlung kleiner Sozialbauhäuser. In einem davon wohnt Elizabeth Hamilton mit ihren beiden Söhnen im Alter von sieben und siebzehn Jahren. Die hölzernen Fensterrahmen sind verfault, der Wind pfeift durch das Wohnzimmer. Die einzige Heizung im Haus besteht aus einem Elektrogerät mit zwei Heizstäben, von denen jedoch nur einer eingeschaltet ist. »Ich kann sonst die Stromrechnung nicht bezahlen«, sagt die Einundvierzigjährige. Sie ist keine Ausnahme: Die Organisation »Energy Action Scotland« hat eine Untersuchung veröffentlicht, wonach siebenhundertfünfzigtausend Haushalte mit niedrigem Einkommen – das sind über zwei Millionen Menschen, zwei Fünftel der Bevölkerung – in feuchten, kalten Wohnungen und Häusern leben müssen.
Elizabeth Hamilton zieht ihr Sozialhilfebuch aus der Handtasche: Sie bekommt 41,53 Pfund pro Woche. Bis vor Kurzem konnte sie sich mit Aushilfsjobs dreißig Pfund dazuverdienen. Dann wurde sie anonym angezeigt. »Du darfst nur fünfzehn Pfund verdienen, wenn du Sozialhilfe beziehst«, sagt sie. Wie sie die zu erwartende Strafe zahlen soll, weiß sie nicht. »Wenn ich jemals zu Geld komme, ziehe ich irgendwo aufs Land. Vielleicht sogar ins Ausland, nach Spanien – wie Sean Connery. Kann man es ihm verübeln, dass er aus Fountainbridge abgehauen ist?«
Connery wurde 1930 gegenüber der Brauerei im Haus Fountainbridge Nr. 76 geboren. Der Schauspieler, der durch seine Rolle als James Bond nicht nur berühmt, sondern auch zum Multimillionär geworden ist, lebt aus Steuergründen in Marbella. Doch inzwischen ist er der Scottish National Party ( SNP ) beigetreten und setzt sich für die Unabhängigkeit seines Heimatlandes ein. Connery sagt, dass das schottische Nordseeöl zwei Milliarden Pfund pro Jahr abwerfe, Schottland davon jedoch kaum profitiere. Stattdessen fließe das Geld in den Südosten Englands, wo es zur Subventionierung des öffentlichen Transportsystems und für Hypothekenzinsermäßigungen verwendet werde. »Es ist Zeit für grundlegende Veränderungen in Schottland«, sagt Connery seinen Landsleuten. »Schottland muss unabhängig werden.«
Der frühere Toryminister für Schottland, Ian Lang, bestreitet, dass Connerys Rechnung aufgeht. Er behauptet, die Schotten holten wesentlich mehr Geld aus dem Topf des Vereinigten Königreichs, als sie hineinstecken. So stelle Schottland zwar 8,9 Prozent der britischen Bevölkerung und erhalte zehn Prozent des Budgets, trage aber nur 7,6 Prozent dazu bei. Selbst wenn man die Öleinnahmen miteinbeziehe, bleibe noch immer ein Haushaltsminus von knapp drei Milliarden Pfund, sagt Lang.
Auch Labour warnt davor, die Subventionen und die englischen Märkte aufs Spiel zu setzen – und das aus gutem Grund: Im Fall der Unabhängigkeit für Schottland würde die Labour Party ihre achtundvierzig schottischen Westminsterabgeordneten verlieren. Der Streit um die Statistiken ist längst zur Glaubensfrage geworden. Der SNP -Politiker Jim Sillars sagt: »Wenn Schottland wirklich so stark subventioniert wäre, wie Lang behauptet, würden die Torys nicht so verzweifelt an uns und unserem Öleinkommen
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