Lesereise Schweiz
selten seine Wirkung.
Im bündnerischen Scuol sind noch die meisten Menschen eines natürlichen Todes gestorben. Der einstige Kurort im Engadin ist schon seit dem Mittelalter als ausgesprochen gesundes Pflaster bekannt. Nicht trotz, sondern wegen seiner Quellen, von denen einige arsenhaltig sind. Denn das Halbmetall hat neben seiner giftigen auch eine heilende Wirkung, als Mittel gegen Fieber und Rheuma. Es kommt einzig auf die Dosis an. Das wusste auch die gelernte Pharmazeutin Agatha Christie.
Scuol hätte ihr gefallen. Allein in der Region Scuol-Tarasp-Vulpera entspringen mehr als zwanzig Mineralquellen, hier sprudelt trinkfertiges Tafelwasser ebenso wie kräftiges Mineralwasser. Heilwirkung wird ihnen allen nachgesagt. Neun sind gefasst, analysiert und für Trink- und Badekuren in Gebrauch. Sie gelten als die mineralreichsten der Schweiz, anzuwenden bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und Magen-Darm-Beschwerden, Blutkrankheiten und Gelenkbeschwerden.
Für Europas höchstgelegenes dauerhaft bewohntes Tal sind die zahlreichen Quellen ein Luxus. Die Engadiner Stiftung Fundaziun Pro Aua Minerala hat einen Mineralwasserweg zum Wandern und Fahrradfahren entwickelt. Auf ihm lernen Besucher nicht nur die schöne Wald- und Berglandschaft in Höhenlagen zwischen sechzehnhundert und achtzehnhundert Metern kennen. Die Stiftung will auch das Bewusstsein für die Bedeutung des Wassers als Lebenselixier und gesunden Durstlöscher wecken.
Die Hauptstrecke umfasst zwölf Quellen, darunter die bekannten Bonifazius, Luzius, Sfondraz, Vi, Clozza und Stron. Weitere kamen etappenweise dazu, die vier Stationen Fuschna, Suolper, Jan Jon Dadaint und Cotschna und die sechs Arsenquellen im Val Sinestra. Der etwa fünfzehn Kilometer lange Weg führt mit Schlaufen und Abschweifungen nach Scuol, Ftan und Vulpera. Tafeln erklären an den Stationen auf Deutsch und Rätoromanisch die Quelle, den Quelltyp, die wichtigsten Inhaltsstoffe und Verwendungszwecke. Manche liegen an idyllischen, fast versteckten Stellen im Wald, etwa die Bonifazius-Quelle mit ihrem verwunschenen Brunnenhäuschen. Ihr calciumhaltiges Wasser empfehlen einheimische Ärzte gegen Osteoporose. Oder die Lischana-Quelle, eine der magnesiumreichsten im Alpenraum, die viele Sportler anzieht. Auf Knopfdruck fließt das frische Quellwasser aus dem Brunnen. »Tägliche Schlückchen vom kostbaren Mineralwasser aus der Tiefe können manch teure Magnesium- oder Calcium-Pille aus der Apotheke ersetzen«, sagt die Mineralwasserstiftung.
Die Clozza-Quelle hat ein Sichtfenster und Beleuchtung, die den Blick auf die sprudelnde Felsquelle freigibt. Nur provisorisch gefasst sind die Vi-, die Fuschna-, die San Jon Dadaint- und die schwefelhaltige Suolper-Quelle, die landschaftlich besonders idyllisch liegen und deren Wasser direkt aus dem Boden dringt. Die Cotschna-Quelle ergießt sich wie ein kleiner Wasserfall aus dem roten Fels. Und aus dem Brunnen am Dorfeingang von Sent fließt das Wasser sogar synchron – aus einer Röhre kommt Leitungswasser, aus der anderen Wasser aus der Stron-Quelle, das stark eisenhaltig ist. Damit es den traditionellen Holztrog nicht rostrot verfärbt, setzten die Baumeister in den vorhandenen Brunnen ein quadratisches Betonbecken hinein – ein schicker Kontrast zwischen Alt und Neu.
In Unterscuol steht der Büglgrond-Brunnen, aus dessen Hahn die calciumhaltige Chalzina-Quelle fließt. »Heilwässer sind ein Wunder der Natur«, meint die junge Frau, die gerade zwei Eimer mit Wasser volllaufen lässt. Der Brunnen ist einer von fünfen in Scuol, die mit Mineralwasser gespeist werden. »Für meine Kartoffeln«, lacht sie und verschwindet in einem der großen Bauernhäuser, in denen Bauern und Vieh früher unter einem Dach lebten. Ihre Schönheit verdanken sie der Sgrafitto-Technik, einfach, aber effektvoll. Tier- und Pflanzenmotive werden dabei aus dem rohen weißen Kalkanstrich herausgekratzt. Der Büglgrond-Dorfplatz mit seinem malerischen Ensemble Engadiner Häuser aus dem 17. Jahrhundert gilt als einer der schönsten in der Schweiz.
Mineralwasser direkt aus dem Brunnen, Gesundheit für jedermann zum Nulltarif. So arm das Hochtal an Bodenschätzen auch ist, von dem elementaren Schatz Wasser hat es im Überfluss. Schließlich fließen nicht überall die Quellen wie im Schlaraffenland. Im Engadin entstehen sie, indem Schmelz- und Regenwasser durch Klüfte, Brüche, Poren und Karst-Öffnungen in den Untergrund der Erde eindringen. Abhängig
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