Lesereise Schweiz
Reihe.
Zwischen den gezackten Berner Alpen und den sanft geschwungenen Rebhängen schwingt sich die Landschaft zu aufregenden Gegensätzen auf: Der Wanderer kommt zum Pfynwald, der mit seinen Seen, Weihern und der rund siebenhundert Hektar großen Fläche als der größte Föhrenwald der Schweiz unter Naturschutz steht. Auf halber Strecke hat er das Naturschutzgebiet der Raspille-Schlucht mit ihren bizarren Felsformationen erreicht. Wind und Wetter waren die Bildhauer dieser seltsamen Pyramiden, Nadeln und Zacken im Kalkfelsen. Das Flüsschen Raspille, das unter einer schmalen Brücke durch die Felsen tost, trennt nicht nur das Unter- vom Oberwallis, sondern auch das frankophone vom deutschen Sprachgebiet. Diesseits der Grenze sagt man Valais , wenn man vom Wallis spricht. Jenseits spricht man Oberwalliser Dütsch, ein Dialekt, der die mittelhochdeutsche Lautverschiebung nicht mitgemacht hat und nach einer Mischung aus Deutsch, Französisch und Italienisch klingt.
Auf der anderen Flussseite sind die Weingesetze strenger: Nur achthundert Gramm Trauben dürfen pro Quadratmeter produziert werden, und es sind nur Trauben zugelassen, die nach ökologischen Grundsätzen angebaut sind. Deshalb bestehen die Rebberge aus umzäunten Schutzzonen, und neue Rebflächen sind auf sechs Hektar begrenzt. Die Winzer stellten so einen Teil ihres Bodens dem Naturschutz zur Verfügung.
Im alten Kern des Weindorfs Salgesch stößt man auf das Zumofenhaus, das alte Walliser Bauernhaus. Die zweite Ausstellung, der Schlusspunkt des Rebwanderwegs, ist erreicht. Zur Abrundung der im »Villa« thematisierten Weinverarbeitung steht hier die Arbeit im Rebberg von der Entwicklung der Rebverjüngung bis zur Schädlingsbekämpfung im Mittelpunkt. Und wenn man sich sattgesehen hat, kann man auch in Salgesch wie Shakespeares Falstaff seine Seele für Wein verkaufen – in einer der Weinkellereien des Dorfes.
Über alle Berge
Auf dem Pfad der Sehnsucht: Via Spluga
»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn? (…) Dahin! Dahin möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.« Lange vor Johann Wolfgang von Goethe, dem wir diesen abgewandelten Ausspruch von 1786 verdanken, gingen Menschen seit der Antike aus den unterschiedlichsten Gründen auf Reisen. Sie suchten mühsam nach geeigneten Pfaden, um als Säumer, Fuhrleute, Händler, Pilger, Legionäre oder Romantiker weiter zu kommen. Manchmal dauerte es Jahre, ehe sich eine Strecke etablierte, und viele waren nur mit Saumtieren zu passieren.
Ein Gebirge wie die Alpen bildete eine schwer überwindbare Barriere. Hier hausten nach dem Volksglauben Geister, Drachen oder gar der Leibhaftige selber. Freiwillig zog es niemanden dorthin. Gab es denn keine Wahl, war ein Übergang, der nur einmal des anstrengenden Anstiegs bedurfte, günstig. Oben war das Ziel in Sicht, die Hälfte des Weges geschafft. Lieber wählte man einen besonders hohen Pass, anstatt womöglich über zwei Berge ziehen zu müssen.
Der Splügenpass ist so ein Übergang, bei dem die Reisenden auf zweitausendeinhundertdreizehn Metern aufatmeten. Neben dem Großen St. Bernhard im Wallis entwickelte er sich zur wichtigsten Alpenroute. Rund zweitausend Jahre, nachdem dieser Transitweg gefunden worden war, lässt er sich als Kultur- und Weitwanderweg über fünfundsechzig Kilometer nachwandern. Die »Via Spluga« führt von Thusis auf der Alpennordseite über den Splügenpass ins italienische Chiavenna, genauer: von Graubünden in die Lombardei und umgekehrt.
Thusis, der größte Ort der Region, ist der Startpunkt auf der Schweizer Seite. Zwischen Tannen- und Lärchenwäldern geht der Via-Spluga-Wanderer mit dem einstigen und dem modernen Verkehr auf Tuchfühlung. Denn bevor er ins Grüne kommt, folgt er der Kantonsstraße, verfolgt mit Augen und Ohren die Autobahn A13, die die Ortschaften 1967 vom Durchgangsverkehr erlöste, dem Verlauf der alten Route aber folgt.
Kein Weg führt an der Viamala-Schlucht vorbei. »Böser Weg« heißt das sechs Kilometer lange Wegstück durch eine Schlucht mit teils senkrechten, überhängenden Schieferwänden von siebzig Metern Tiefe und stellenweise nur drei Metern Breite, das seit der Römerzeit begangen wird. Nicht wenige bezahlten das Abenteuer auf den schmalen Serpentinen und wackeligen Brücken mit dem Leben. Christen bauten auf jeder Seite eine Kapelle, in denen die Wagemutigen vor der Brückenbegehung wahlweise den Allerhöchsten, die Muttergottes, die
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