Lesereise Sizilien
omertà. Erst der Verrat eines engen Vertrauten brachte »u curtu« zu Fall, sein Exchauffeur packte aus.
Kollege Bernardo Provenzano, auch er jahrzehntelang gesucht, schlenderte bis zu seiner Festnahme im Frühjahr 2006 durch die Straßen Palermos. »Das Phantom der Mafia« nannte ihn die Presse, da niemand genau wusste, wie er aussah. Es gab von ihm lediglich ein fünfunddreißig Jahre altes Foto, worauf er in seinem hochgeschlossenen weißen Hemd wirkte wie ein harmloser Messdiener. Der friedliche Eindruck allerdings täuschte, wie ein Kumpel der Polizei im Frühjahr 2003 verraten hat. Der ehemalige Mafia-Boss Antonino Giuffre, nach neun Jahren ins Netz der Fahnder gegangen, erzählte, dass die Mafia in einem Todescamp auf Sizilien jahrelang Gegner umgebracht und in einem Säurebad aufgelöst hat. Provenzano habe auf dem Gelände einer Deponie für Altmetalle Dutzende Gegner so ermorden lassen, plauderte Giuffre. Er könne sich gut an den »unerträglichen Geruch der in der Säure aufgelösten Leichen« erinnern, zitierten italienische Zeitungen den Exboss. Die Gegner des Clans aus Corleone seien zu der Deponie in Bagheria bei Palermo gelockt und dort »beseitigt« worden. »Ein falsches Wort reichte aus und es gab kein Entrinnen mehr«, berichtete der Mafia-Überläufer. Die Deponie sei von der Mafia sogar weiter benutzt worden, nachdem die Justizbehörden das Gelände konfisziert hätten.
Die Anfänge der Mafia, des Geflechts aus Angst, Gewalt, Korruption und Geldgier, reichen bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück, doch erst in den goldenen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts machte die »ehrenwerte Gesellschaft« richtig Karriere. Als sie nämlich von einem ländlichen Phänomen, spezialisiert auf Viehdiebstahl und die Kontrolle von Wasserquellen, zu einem städtischen wurde und das Baugewerbe unter ihre Kontrolle brachte. 1950 gewann die Christdemokratische Partei die Wahlen, in diesem Jahr betrat Giulio Andreotti die politische Bühne. Er wurde siebenmal Ministerpräsident, später als Helfer der Mafia erst zu lebenslanger Haft verurteilt, dann in Palermo wieder freigesprochen. La Piovra, die Krake, hatte in ihm einen Sympathisanten an oberster Stelle. Doch zurück zu den Ursprüngen: Es waren die wilden zwanziger und dreißiger Jahre. Der sizilianische Freiheitskämpfer Salvatore Guiliano trotzte den Paten der Cosa Nostra und forderte die Angliederung Siziliens an die USA . Waren die Paten Ende der vierziger Jahre noch bereit, Guiliano eine Partnerschaft anzubieten, wurde er den Paten jetzt lästig und gefährlich, da er ein hohes Ansehen bei der Bevölkerung genoss. Dies war der Auftakt der ersten großen Mafia-Kriege und es begann der Aufstieg des legendären Clans aus Corleone. Die Corleonesi stiegen zur Macht auf und legten die Grundsteine für die große Mafia-Karriere. Es kam zu Kontakten zur Geheimloge P 2. Diese wurde von Licio Gelli geführt und hatte fast tausend Mitglieder. Darunter einiges, was in Italien Rang und Namen hatte, Industrielle, hochrangige Militärs, Politiker, Geheimdienstangehörige.
Die achtziger Jahre waren geprägt durch den zweiten großen Mafia-Krieg, der bis 1983 andauerte. Allein auf Sizilien starben etwa tausend Menschen. Als Sieger aus diesem Krieg gingen die Corleonesi mit dem Dreigespann Luciano Liggio, Riina und Provenzano hervor. Als Liggio im Gefängnis saß, wurde Riina die bestimmende Figur in der Cosa Nostra. Anfang der achtziger Jahre wurde der beliebte Polizeipräfekt Dalla Chiesa nach Sizilien geschickt, kurze Zeit später zusammen mit seiner Frau erschossen. Erstmals in der Geschichte gingen die Sizilianer daraufhin auf die Straße, um gegen die Mafia zu protestieren. Demonstrationen, Bürgerbewegungen – Sizilien stand Kopf und Leoluca Orlando wurde zum ersten Mal zum Bürgermeister von Palermo gewählt. Es folgten Riesenprozesse. Die Cosa Nostra erlebte einen Rückschlag nach dem anderen, Bosse wie Tommaso Buscetta, Salvatore Contorno oder Antonino Calderone wurden geschnappt und packten aus. Die Mafia am Ende?
Fast sah es so aus. Doch dann wurden plötzlich mehrere Staatsdiener getötet, in Berufungsverfahren etliche Mafiosi wieder freigesprochen. Immer deutlicher wurde, dass die Mafia Rückendeckung aus der obersten Politspitze erhalten hatte. Gegen Ende des Jahrzehnts war die Cosa Nostra wieder gestärkt.
Eine der herausragendsten Merkmale der Mafia ist die Fähigkeit, sich den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen
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