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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bengel
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und schließlich auf ein schönes pub , wo man den Abend zubringt oder auch die Zeit des lunch . Die alten Häuser und die Menschen, die man trifft: Sie geben erst dem schönen Genrebild den ihm gemäßen Hintergrund – und, wenn man nur recht zuhört oder hinsieht, auch den Untergrund. – »Sicher«, sagt der Mann in Alfriston am Tresen, »sicher, Beachy Head ist schön, schaurig-schön, ein Paradies für Selbstmörder.« Von weither kommen manchmal die verzweifelten Ästheten, hören wir, nur um an Englands schönster Klippe sicher und stilvoll zu sterben. Sechzehn waren es zuletzt in einem Jahr. Einige von ihnen begründen auch den zweiten Namen dieser kühnen Klippe immer wieder neu: »Lover’s Leap«!
    Und ob uns nebenan, gleich vor dem Star, der rote Löwe aufgefallen sei? Der stammt von einem holländischen Schiff, das vor der Cuckmere-Mündung aufgelaufen ist im 17. Jahrhundert. Niemand zweifelt daran, dass man es geplündert hat, anstatt zu helfen. Vom Wrack der »Nympha Americana«, 1747 vor Cadiz gekapert, zerschellt bei Birling Gap mit reicher Ladung, gibt es Drucke aus der Zeit und selbst ein Ölbild, das die Riffpiraten mit den Überresten zeigt. Ehe überhaupt die Staatsgewalt am Schauplatz – und im Bilde – war, hatten sie die Ladung, Samt und Seide, Quecksilber und Gold, schon fortgeschafft.
    Und erst das Haus, in dem wir sitzen, nah am Kamin unter trockenem Hopfen, mit ausgedientem Werkzeug an den schwarzen Balken, das Market Cross House, benannt nach dem Kreuz vor der Tür, bei den Kastanien: Es rühmt sich längst schon seiner unrühmlichen Vergangenheit und nennt sich nun Ye Olde Smugglers Inn. Hier lebte Stanton Collins, bis man ihn 1831 in Lewes vor den Richter stellte: einer der großen Schufte der Branche, die gar nicht so romantisch war wie in dem »Smuggler’s Song« von Rudyard Kipling: »Five-and-twenty ponies,/ Trotting through the dark –/ Brandy for the Parson,/ ‘Baccy for the Clerk;/ Laces for a lady, letters for a spy,/ And watch the wall, my darling, while the Gentlemen go by!«
    Auch damals lag das Dorf in einem goldenen Dreieck, tückisch wie das Dreieck von Bermuda. Hier waren manche Häuser unterhöhlt, in Litlington soll selbst der Pfarrer unterirdische Verbindung zu den »Gentlemen« gehalten haben: Im 18. Jahrhundert, zur Blütezeit des Schmuggels, als ungefähr ein Viertel des englischen Seehandels an den euphemistisch selbst ernannten free trade fiel, war Sussex’ Küste eines seiner Zentren; in Kent und Sussex war ein Viertel aller Schmuggelschiffe stationiert, ein Drittel des Tees und die Hälfte an Gin gingen hier, wenn auch unter der Hand, durch die Hände, der beste Gin in London hieß damals Genuine Crowlink. Sogar am Tag, so schrieb die Zeitung damals, könne man vor Beachy Head ein Dutzend Schmugglerschiffe liegen sehen. Zweimal in der Woche trafen sich die Banden, zwei-, dreihundert Mann, bei Birling Gap und Cuckmere Haven, wo es flache Kieselstrände gab, und luden ihre Waren auf die Pferde oder drehten sie mit Winden geradewegs die Klippen hoch. Es heißt, zu jener Zeit sei auf die runs der Schmuggler mehr Verlass gewesen als auf die Postkutsche nach London.
    Doch es ging nicht nur um Kavaliersdelikte oder delikate Luxusgüter: Manchmal ging es auch um Geld, mit dem die Londoner Bankiers Napoleon im Kampf gegen England unterstützten. Wie immer auch Verrat zum Himmel stinkt: Geld stinkt nicht. Es war ein schmutziges Geschäft, und hässlich waren die Methoden – beiderseits. Die Strafen wurden immer härter, die Schmuggler immer rücksichtsloser, um sich noch mit letzter Härte gegen ihre Festnahme zu wehren. Bald war in Kent und Sussex ein Viertel der gesamten Küstenwacht postiert: Was heute noch an Seaford Head den Fotografen für ihr Bild der Seven Sisters als Vordergrund dienlich ist, das waren Küstenwachtgebäude. Dann endlich, 1840, setzte die Regierung ihre stärkste Waffe ein: Sie senkte per Gesetz die Steuern. Stanton Collins hatte man noch vorher deportiert, und das letzte Mitglied seiner Bande starb betagt im Arbeitshaus von Eastbourne. »Smuggling as a well-organised system no longer exists«, frohlockte 1839 die Behörde. Das war freilich weit gefehlt. Geschmuggelt wird noch immer, Heroin und Immigranten etwa, fünfzigtausend in fünf Jahren. 1981 wurde noch vor Beachy Head ein Schiff mit Rauschgift aus Panama geentert. Doch was damals aus der Welt verschwand, das war der Rest jener Räuberromantik des Schmuggelns, wie sie noch in

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