Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
paar Schritte, dann können wir es selbst sehen: Das weiße Kliff, das wirklich weiß ist, während das von Dover nur so heißt, hundertdreiundsechzig Meter hoch, davor The Lighthouse, ihr und unser Ziel. Mit seinen dreitausendsechshundertsechzig Tonnen kornischen Granits steckt der Leuchtturm tief in der Kreide, fünfeinhalb Meter in den Boden ragen seine Fundamente. In voller Schönheit tut er Dienst, seit 1983 automatisch, mit zwei Strahlen alle zwanzig Sekunden und achthundertachtzigtausend Candela – ein Licht als Glanzlicht auf dem Wunschbild einer Landschaft, die sich von hier bis Seaford Head erstreckt und wie ein Dreieck in das Innere des Landes reicht, ein kurzes Stück den River Cuckmere aufwärts.
So viel Schönheit hat zuweilen ihre Schattenseiten: »We are in the so called golden triangle«, sagt zur Erklärung und mit Bedauern eine Wirtin nahebei in Alfriston, die dritte, die an diesem Tag, in diesem Kleinod eines Dorfes, kein Zimmer für uns hat. An den Wochenenden wird es im Sommer schwierig mit der Unterkunft, da bleibt man besser in der Nähe im großen Badeort oder weicht nach Seaford aus, in die etwas gesichtslose Kleinstadt zwischen Eastbourne und Brighton am Meer. Und wenn der Ort selbst auch keine Attraktion ist, so hat man doch von dort, vom South Hill mit der Scheune oberhalb des Golfgeländes, immerhin den besten Blick auf Englands schönstes Klippenpanorama: auf Haven Brow, auf Short Brow, Rough Brow, auf Brass Point, Flagstaff Point, auf Flat Hill, Baily’s Hill und Went Hill Brow – kurz, auf die Kreideklippen Seven Sisters, die sieben Hügel der South Downs, die hier vom Meer halb angefressen sind und nun ihr Innerstes nach außen kehren. Und wer nun darauf hinweist, dass das acht sind, der muss für möglich halten, dass die Schwestern nicht nach den türmenden Hügeln benannt sind, sondern nach den Einbuchtungen zwischen ihnen. Frauen sind sie sowieso, beherrscht von einem Mann, dem schönen Chef von Beachy Head.
Lewes ist nicht weit, die Hauptstadt von East Sussex, Brighton auch nur eine halbe Stunde entfernt, und auch dort, jenseits der Niederung von Newhaven, gibt es wieder weiße Klippen. Aber dort, bei Saltdean und Peacehaven, ist die Küste schon seit 1824 dem Verkehr erschlossen, während hier das Auf und Ab am Klippenrand bei Birling Gap und Crowlink nur wandernd zu erfahren ist. Der South Downs Way, der herrliche Long Distance Path durch Sussex, inzwischen fortgeführt bis Winchester Cathedral in Hampshire, beginnt in Eastbourne, wo wir hinaufgestiegen sind, und er wartet sofort mit einem Höhepunkt auf, dem auf den nächsten hundert Meilen ungezählte folgen.
»Whale-backed Downs«, hat Rudyard Kipling das grüne Hügelland genannt, das hier so jäh, so weiß zu Ende geht. Er hat an diesen Hügeln selbst jahrelang gewohnt, von 1897 bis 1903 im schönen Rottingdean bei Brighton, im Haus The Elms, bevor er tiefer in den Weald gezogen ist, nach Burwash, in das alte Waldgebiet und Gartenland an der Grenze zu Kent. »The Downs are sheep, the Weald is corn«, hat er geschrieben – und darauf gereimt, »You be glad you are Sussex born!« Die »Walbuckel der Downs« – sie sehen in der Tat so aus – sind überwiegend Weideland. Bis an den Horizont rollen die Hügel; Schafe über Schafe auf den Kreidetriften, nur spärlicher Bewuchs dazwischen, Hecken, Büsche, einzig an den kleinen Flüssen sattes Grün. Hie und da ein Farmgebäude oder auch ein Dorf, ansonsten Gras, so weit das Auge reicht, nur kleine, weiße Wege dazwischen. Samuel Johnson, der Poet und Kritiker des 18. Jahrhunderts, hätte Kiplings Meinung nicht geteilt, im Gegenteil: So trostlos mochte ihm das Hügelland erscheinen, dass man sich glatt erhängen könne, wenn nur ein Baum sich fände, um den Strick daran zu binden …
Wenn jemals nennenswerte Bäume hier gewachsen wären, so wären sie im schwarzen Fachwerk aufgegangen. Alfriston ist solch ein Dorf mit malerischen Tudorbauten, mit bleiverglasten Erkern, roten Ziegeln an den Giebelseiten oder waagerechtem weatherboarding , weiß lackierten Planken gegen Wind und Wetter. Das Örtchen liegt auf dem Ufer des Cuckmere, beherrscht von der St. Andrew’s Church auf einem künstlichen Hügel der Vorzeit am tye , wie die Sachsen ihr village green nannten. Die Kirche, die mit ihrem Vierungsturm die Linden wie die Buchen ringsum überragt, wird wegen ihrer Lage und auch der Klarheit ihres frühgotischen decorated style gerne »The Cathedral of the Downs«
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