Lesley Pearse
stellen.«
Gegen Mittag waren schon neun tote Männer, vierzehn Frauen und zwölf Kinder geborgen und die Toten in der Kirche aufgebahrt worden. Man fand noch weitere dreißig Verletzte, doch immer noch wurden mehr als dreißig Menschen vermisst.
Matilda arbeitete ohne Pause, zog den Verletzten die nassen Kleider aus, wusch und verarztete Wunden und versuchte, die Menschen zu trösten, die auf Neuigkeiten über ihre verschollenen Männer, Frauen oder Kinder warteten. Manche der anderen Helferinnen beteten ohne Unterlass, während sie die Opfer versorgten, ihre Teetassen füllten und heiße Suppe verteilten. Matilda fragte sich in einem zynischen Moment, warum die Menschen plötzlich so hilfsbereit waren, denn die Verletzten waren dieselben Leute, die normalerweise von der Gemeinde ausgeschlossen waren. Sie waren diejenigen, für die Giles stets um Hilfe gebeten hatte. Die Sündenböcke der Gemeinschaft, die man aller Verbrechen beschuldigte und denen man den Ausbruch jeder Epidemie zur Last legte. Hätte man sich schon früher um diese Menschen gekümmert, hätten sie nicht in diesen Hütten am Flussufer wohnen müssen.
Matilda fragte sich auch, wie die Zurückbleibenden bloß jemals ihr Leben wieder aufnehmen konnten. Ihre wenigen Tiere waren fast alle ertrunken, ihre einfachen Behausungen und spärlichen Besitztümer vom Fluss fortgerissen. Eine Frau hatte ihren Mann und fünf ihrer acht Kinder verloren. Als sie verbittert erklärte, am liebsten auch tot zu sein, konnte Matilda ihr keinen Vorwurf machen.
Neben diesem Schrecken gab es aber auch Geschichten von wundersamen Rettungen. Manche Menschen waren von dem Flusswasser aus dem Haus gespült worden und ein großes Stück mitgerissen worden. Dennoch gelangten sie irgendwann auf flacheren Boden und konnten unverletzt nach Hause stolpern. Ein Ehepaar, das mit seinen beiden Kindern ein Holzbett teilte, fand sich auf dem Fluss wie in einem Boot schwimmend wieder. Der Mann konnte schließlich einen Ast ergreifen, an dem er das Bett zum Ufer zog. Solomon fischte einen großen Hund aus dem Wasser, der ein dreijähriges Mädchen am Kragen seines Nachthemdes getragen hatte, das zwar erschreckt, aber unverletzt geblieben war.
Doch diese Wunder waren nur ein schwacher Trost für die Wartenden. Je später es wurde, desto seltener hielten die Kutschen, deren Räder sich durch den Matsch quälten, am Schulhaus, um Verletzte abzuliefern, sondern fuhren geradewegs zur Kirche.
Die Männer suchten noch nach Sonnenuntergang mit Laternen nach Überlebenden. Matilda lief um Mitternacht zum Fluss, wo sie Giles am Ufer fand. Sie sah das Leuchten der Laternen auf beiden Uferseiten. Jetzt, nachdem der Regen aufgehört hatte, war es ein warmer, klarer Abend. Die Sterne leuchteten am Himmel, und der Mondschein spiegelte sich auf der Wasseroberfläche.
Ein paar Sekunden standen Matilda und Giles still am Ufer, beobachteten die Wellen und lauschten den Rufen und Pfiffen der Männer.
»Was wird mit all den heimatlosen Menschen geschehen?«, fragte sie mit Tränen in den Augen. »Keiner mochte sie, solange sie hier am Fluss lebten. Wer wird ihnen ein Heim anbieten?«
Giles atmete tief ein. »Wir werden es tun, Matty, und vielleicht folgen dann andere unserem Beispiel. Möglicherweise musste es erst zu dieser Tragödie kommen, bevor den Stadtleuten bewusst werden konnte, dass sie den Armen zur Seite stehen müssen.«
»Es lässt unsere eigenen Probleme sehr klein erscheinen«, flüsterte sie.
»Da hast du Recht«, stimmte Giles müde zu. »Es hat sogar einige unserer Probleme gelöst. Du musst eine Zeit lang mit Tabby das Zimmer teilen, und ich werde im Wohnzimmer schlafen. So können wir zwei Familien aufnehmen. Es ist nicht die Lösung, die ich mir gewünscht hätte, doch wir müssen den Opfern helfen.«
»Was um Himmels willen hätte Lily dazu gesagt?«, platzte sie, ohne nachzudenken, heraus.
Zu ihrer Überraschung machte er ihr jedoch keinen Vorwurf, sondern lachte nur. »Sie wäre wohl in Ohnmacht gefallen, was, Matty?«
Matty kicherte, als sie sich den Schrecken in Lilys Gesicht vorstellte, wenn Giles ihr vorgeschlagen hätte, zwei Familien in ihr sauberes, ordentliches Heim aufzunehmen. Aber auch sie selbst schreckte die Vorstellung ein wenig. Allein der Gedanke an das zusätzliche Kochen, Putzen und Waschen, ganz zu schweigen von den vielen, unartigen Kindern, die das Haus bevölkern würden, war entmutigend. Dennoch war es das erste Mal, dass es ihnen gelungen war, über
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