Lesley Pearse
verloren hat. Ich werde selbst einen Brief an den Dekan schreiben, Matilda, und deine Situation erklären.«
»Ich möchte keine Almosen«, entgegnete sie. »Ich brauche nur ein wenig Zeit, bis ich Arbeit gefunden habe. Ob ich wohl Lehrerin sein könnte?«
»Wenn wir hier in Independence eine Lehrerin brauchten, würde ich dich sicherlich empfehlen«, erklärte er. »Aber wir haben eine Lehrerin, Matty.«
»Nun, dann in einem anderen Ort. Was ist mit Westport oder Kansas City?«, fragte sie, obwohl sie nie in einer dieser Städte gewesen war.
Der Doktor lehnte sich zurück und betrachtete Matilda eine Weile. Er und seine Frau mochten sie sehr gern, und seines Erachtens wäre sie eine wunderbare Lehrerin. Aber leider gab es viele Vorurteile gegen allein stehende Frauen, die arbeiteten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mit einem achtjährigen Mädchen im Schlepptau würde sie es sogar noch schwerer haben.
»Wäre es nicht weiser, Tabitha zu ihren Großeltern nach England zurückzuschicken?«, fragte er nach einigen Minuten des Nachdenkens. »Ich weiß, du hast dich immer schon um sie gekümmert und liebst sie auch. Aber sie wird dir eine große Last sein, Liebes.«
»Ich habe Lily versprochen, mich um sie zu kümmern«, erwiderte Matilda entrüstet. »Sie waren doch dabei.«
»Das war ich«, stimmte er zu. »Aber Lily konnte nicht wissen, dass Giles so bald sterben würde. Sie würde das Beste für ihr Kind wollen.«
»Es wäre sicher nicht das Beste, sie zu ihren Großeltern zurückzusenden. Als Lily starb, hat Giles ihnen einen Brief geschrieben, und in ihrem Antwortbrief haben sie weder Hilfe angeboten noch Mitleid gezeigt. Ich habe sie kennen gelernt, bevor wir nach Amerika fuhren, und sie erschienen mir kleinmütig und kalt. Lily würde nicht wollen, dass Tabitha bei ihnen aufwächst.«
»Aber Giles’ Familie würde sicher anders reagieren, oder nicht?«
»Wahrscheinlich«, räumte sie ein. »Doch sie werden meinen Brief, den ich ihnen nach seinem Tod geschrieben habe, noch nicht erhalten haben. Es kann Monate dauern, bis sie zurückschreiben. Doch ich muss jetzt eine Entscheidung für Tabitha und mich treffen.«
Dr. Treagar nickte. »Du kannst bis dahin erst einmal bei uns wohnen, Matty. Wir würden uns freuen, euch bei uns zu haben. Ich bin sicher, du weißt, dass wir beide dich sehr gern haben.«
Seine Güte trieb ihr die Tränen in die Augen. »Das ist wirklich zu gut von Ihnen, Doktor«, sagte sie. »Aber ich kann nicht einmal eine Bezahlung anbieten.«
»Denkst du etwa, wir würden Geld verlangen?«, entgegnete er und nahm ihre Hand. »Ich wäre kein guter Freund, wenn ich dir und Tabitha den Rücken zukehren würde, sobald ihr ein wenig Hilfe braucht. Also, pack alle deine Sachen zusammen. Die der Milsons werden wir irgendwo anders unterbringen.«
»Ich bin Ihnen etwas schuldig«, bemerkte Matilda leise. »Ich verspreche Ihnen, alles zu tun, was ich kann, um meinen und Tabithas Aufenthalt bei Ihnen und Mrs. Treagar wenigstens durch meine Hilfe im Haus bezahlen zu können.«
Der Doktor lächelte. Er hatte bislang immer angenommen, dass Matilda und Lily aus demselben sozialen Umfeld stammen mussten, doch Matildas Worte zeigten ihm, dass dem nicht so war. Wirkliche Ladys würden sich keine Gedanken darüber machen, wie sie ihren Unterhalt bezahlen konnten, sie würden lediglich nehmen und glauben, dies sei ihr gutes Recht. Er war jetzt entschlossener denn je, dieser tapferen jungen Frau zu helfen.
Beim Packen fiel Matilda eines ihrer Tagebücher aus dem vergangenen Jahr in die Hände. Sie schlug es auf und las ein paar Zeilen hier und dort. Im Februar hatte sie noch berichtet, wie glücklich Lily während ihrer Schwangerschaft gewesen war und dass sie das Baby spüren konnte, wenn sie die Hand auf ihren Bauch legte. Sie las auch noch einmal ihre Gedanken, als das Baby und seine Mutter gestorben waren. Wie soll ich ohne meine Freundin weiterleben? Es ist, als hätte die Sonne sich für immer verdunkelt. An diesem Tag hatten offenbar auch ihre Blutungen eingesetzt, denn sie hatte kleine Kreise um das Datum gemalt.
Die Erkenntnis durchfuhr sie wie der Blitz. Seit Giles’ Tod hätte ihre Periode bereits zwei Mal einsetzen müssen, und obwohl vieles in ihrer Erinnerung verschwommen war, wusste sie, dass sie dies sicher nicht vergessen hätte, denn das Waschen der Tücher war immer eine unangenehme Aufgabe.
»Du kannst nicht schwanger sein«, rief sie laut. »Es waren nur zwei Male. So
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