Lesley Pearse
grausam kann Gott doch gar nicht sein, erst ein Kind zu schenken und dann seinen Vater zu töten.«
Matilda begann vor Angst zu zittern. Sie zog einen Umhang um ihre Schultern und ging zum Ofen hinüber. Sie schlang die Arme um die angezogenen Beine und blieb völlig bewegungslos vor Furcht sitzen.
Einen Monat später, sie lebte bereits bei den Treagars, wusste Matilda mit Sicherheit, dass sie schwanger war. Sie fühlte sich krank am Morgen, vertrug den Geruch von Kaffee nicht, und ihre Brüste waren angeschwollen. Sie hatte ausgerechnet, dass das Baby um den achten September geboren werden würde, und sie hatte panische Angst.
Sie konnte sich keinem anvertrauen, nicht einmal dem Doktor, denn vor der Ehe schwanger zu werden war eine schreckliche Sünde. Man würde sie aus der Stadt vertreiben. Es war ihr nicht besonders wichtig, was man über sie sagen würde, aber sie wollte auf keinen Fall Lilys und Giles’ Andenken beschmutzen. Außerdem musste sie an Tabitha denken. Man würde ihr das Kind fortnehmen, und wenn nicht bald Nachricht von ihren Großeltern aus England eintraf, würde sie sogar in einem Waisenhaus landen.
Tabitha hatte sich gerade mit dem Tod ihres Vaters abgefunden. Sie war zwar oft nachdenklich und brach immer noch schnell in Tränen aus, aber dennoch schien es ihr langsam wieder besser zu gehen. Matilda wusste genau, dass sie selbst der Grund hierfür war. Für Tabitha hatte sich das Leben nicht so sehr verändert. Sie ging immer noch jeden Tag zur Schule, lebte in einem schönen Haus und wurde versorgt, wenn nicht sogar von den Treagars verwöhnt. Aber es war Matildas Gegenwart, die ihrem Leben Stabilität verlieh. Wenn sie getrennt würden, könnte es für Tabitha ein Schicksalsschlag zu viel sein. Matilda durfte dies keinesfalls riskieren.
Cissy war die Einzige, von der Matilda wusste, dass sie ihr uneingeschränkt Hilfe anbieten würde. Je mehr sie an ihre Freundin und Oregon dachte, desto deutlicher wurde ihr, dass die Flucht zu Cissy ihr einziger Ausweg war. Doch würde sie die lange, gefährliche Reise durchstehen? Und wenn nicht, was würde dann mit Tabitha geschehen?
Dennoch, als die Wochen ins Land gingen und die ersten Reisenden mit ihren Planwagen in der Stadt ankamen, um sich an den Treck im Frühling anzuschließen, begann Matildas Entschluss zu reifen. In Oregon gab es viel freies Land, und außer Cissy kannte sie keiner dort. Mit ihrer Hilfe konnte sie in Zukunft als Witwe auftreten und Arbeit bekommen, um sich und die Kinder ernähren zu können. Matilda wollte jetzt nicht mehr über die vielen Unwägbarkeiten nachdenken. Sie würde es schon schaffen.
Am ersten März entschloss sie sich, den Treagars beim Abendessen von ihren Plänen zu berichten. Sie hatte am selben Tag vom Dekan aus St. Louis einen Brief erhalten, der einen Scheck über fünfzig Dollar enthielt, was er sehr passend als »Trauergeld« bezeichnet hatte.
Das Haus der Treagars war eines der schönsten in Independence. Das Esszimmer war mit seinem polierten Eichentisch, der groß genug für zehn Gäste war, besonders elegant. So schöne samtene Vorhänge hatte Matilda zuvor nur im Haus von Lilys Eltern in Bristol gesehen.
Obwohl sie darauf bestanden hatte, während ihres Aufenthaltes zu arbeiten, erlaubte Mrs. Treagar ihr nichts anderes als ein wenig Näharbeit, denn sie beschäftigte zwei Dienstmädchen, die die Hausarbeit erledigten, und eine Köchin, die keinem Zutritt in ihre Küche gewährte.
Das Abendessen war an diesem Tag besonders gut, denn es gab geröstete Ente. Die ärmeren Patienten beglichen ihre Rechnungen beim Doktor meist mit Lebensmitteln, und das war ihm sehr recht, denn er liebte gutes Essen.
Als das Fleisch geschnitten und verteilt war, berichtete Matilda von ihren Plänen.
»Ich habe mich entschlossen, mich mit Tabitha dem nächsten Treck nach Oregon anzuschließen. Wir wollen zu unseren Freunden ziehen, den Duncans.« Sie hoffte inständig, dass ihr entschiedener Tonfall die Treagars von dem Versuch abhalten würde, sie zum Bleiben zu bewegen.
Matilda hatte Tabitha am Nachmittag besonders früh von der Schule abgeholt. Auf dem Weg nach Hause waren sie noch am Grab von Lily und Giles vorbeigegangen, und dort hatte Matilda dem Kind von ihrem Entschluss berichtet. Tabitha war sehr aufgeregt gewesen, denn sie hatte Cissy und John sehr gemocht, und die Idee, in einem Planwagen zu reisen, begeisterte sie. Sie lachte sogar, als Matilda ihr ankündigte, beim Abendessen ein paar kleine
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