Lesley Pearse
Lügen erzählen zu müssen. Sie war ein scharfsinniges Kind und wusste, dass Mrs. Treagar sich oft zu viele Sorgen machte. Deshalb verstand sie, warum Matilda die Duncans als wohlhabender beschreiben musste, als sie tatsächlich waren, denn ansonsten würden der Doktor und seine Frau die beiden nicht gehen lassen.
»Wenn wir hier warten, bis wir von den Milsons aus England eine Nachricht erhalten, könnte es zu spät sein, den Treck zu begleiten«, fuhr Matilda fort. »Außerdem möchte Tabby ohnehin nicht nach England zurückkehren. Meine Freunde haben in Oregon ein erfolgreiches Holzgeschäft und eine weitläufige Farm. Tabby wird die Gesellschaft ihrer Kinder genießen und sich wieder in ein Familienleben eingliedern können.«
»Du kannst die lange Reise nicht ohne einen Mann antreten.« Der Schrecken stand Mrs. Treagar ins Gesicht geschrieben. »Es ist viel zu unsicher.«
»Eine Menge Frauen reisen allein«, gab Matilda ruhig zurück. »Die meisten von ihnen folgen ihren Ehemännern, die im letzten Jahr bereits gefahren sind. Ihnen werde ich mich anschließen. Ich habe mir alles genau überlegt. Ich habe gerade genügend Geld, um mir ein Gespann Ochsen und Lebensmittel für die Fahrt zu kaufen. Wenn ich erst einmal in Oregon bin, werde ich eine Stellung als Lehrerin annehmen.«
Dr. Treagar beobachtete Matilda genau. Er konnte sehen, dass sie bei weitem nicht so ruhig war, wie sie scheinen wollte, denn sie hatte zwei rote Flecken auf ihren Wangen, und ihr Blick wich dem seinen aus, und das weckte sein Misstrauen. Aber in den zwei Jahren, die er sie kannte, hatte er sie als ehrlich, zupackend und verlässlich kennen gelernt. Zur Zeit der Überschwemmung hatte er ihr Mitleid für andere Menschen und ihre Tatkraft bezeugen können.
Vor allem nach Giles’ Tod jedoch hatte er das volle Ausmaß ihres Mutes und Stolzes erkannt. Die meisten Frauen in ihrer Situation wären hysterisch geworden, besonders da offensichtlich war, wie sehr sie Giles noch liebte. Dennoch hatte sie niemanden mit ihren Problemen belastet, sich um Tabitha in derselben beständigen Art und Weise wie immer gekümmert und ihren eigenen Kummer stets mit stiller Würde getragen. Er fragte sich, ob ihr Entschluss, nach Oregon zu gehen, durch ihre Angst unterstützt wurde, die Großeltern würden sie von dem Kind trennen wollen. Sowohl Giles als auch Lily hatten ihre Liebe zu Matilda immer offen bekundet. Matilda war die wahre Mutter der gesamten Familie gewesen, und Giles und Lily hätten sich sicherlich gewünscht, dass ihre Tochter in Matildas verantwortungsvollen Händen und in dem Land bliebe, das sie beide geliebt hatten.
»Ich habe den Eindruck, Matty hat sich bereits entschieden«, sagte er, während er seiner Frau einen warnenden Blick zuwarf. »In meinen Augen ist es ein guter Plan. Ein neuer Start in einem Land voller Möglichkeiten.« Er wandte sich Tabitha zu. »Und was hältst du von der Idee, Tabby?«
»Ich möchte sehr gern nach Oregon gehen«, erklärte sie ernst. »Matilda ist jetzt meine Mama, und ich will mit ihr zusammen sein.«
Dem Doktor wurde das Herz warm. Nach Giles’ Tod hatten er und seine Frau darüber nachgedacht, Tabitha zu adoptieren, doch es gab keinen Zweifel, wohin das Kind gehörte.
»Dann geht mit Gott, meine Lieben«, entgegnete er und lächelte die beiden an. »Es wird eine lange, anstrengende Reise werden, aber ich bin überzeugt, dass ihr dort etwas aus euch machen werdet. Doch meine Frau und ich werden euch sehr vermissen.«
Matilda schickte ein Dankgebet für die Erlaubnis der Treagars zum Himmel. Sie fügte die Bitte hinzu, dass ihr Bauch flach bleiben würde, bis Independence sicher hinter ihr lag, und dass Tabitha mit der Nachricht zurechtkommen würde, im September ein kleines Geschwisterchen zu bekommen.
14. K APITEL
I ch hoffe, es ist nicht das, wonach es aussieht«, rief Dr. Treagar, als er auf die Holzkiste schaute, die in der Vorhalle seines Hauses stand. Matilda hatte sie mit Proviant gefüllt, aber auf dem Deckel lag ein längliches Etwas, das in ein Stück öligen Stoff gewickelt war.
»Doch, das ist es«, antwortete sie und blickte ihn herausfordernd an. »Und ich habe gelernt, damit zu schießen.«
»Matty!«, platzte er schockiert heraus. »Giles hat Waffen immer abgelehnt.«
»Giles hätte seine Meinung vielleicht geändert, wenn er gewusst hätte, dass Worte ihn nicht vor Gaunern schützen würden«, gab sie spitz zurück. »Außerdem will ich keine Menschen damit umbringen,
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