Lesley Pearse
akzeptieren. Nicht nur weil sie ihn liebte und den Rest ihres Lebens an seiner Seite hatte verbringen wollen. Nicht nur weil er eine Tochter hatte, die ihn brauchte, sondern weil er sein Leben dem Wohl anderer Menschen geweiht hatte. Warum sollte ein Mann, der von Gott erwählt war, seinen Namen zu verkünden, eine Kugel in die Brust bekommen, wo er selbst doch so friedliebend gewesen war? Er hatte Gewehre und Waffen jeder Art stets abgelehnt.
Als sie an Mrs. Treagars Brust weinte, war ihre Trauer genauso groß wie ihre Wut. Sie verfluchte den Mann, der Giles erschossen hatte, und wusste, wenn er hier in Independence gewesen wäre, hätte sie eine Axt genommen und ihn umgebracht.
Es war Mrs. Treagar, die Tabitha die traurige Botschaft überbrachte, da Matilda nicht dazu fähig war. Doch in dem Moment, als sie Tabitha in ihrer Qual aufschreien hörte, nahm sie sich zusammen, eilte zu dem Mädchen und weinte mit ihm.
»Es ist so ungerecht«, schrie Tabitha. »Mama ist tot und Baby Harry, jetzt auch noch Papa, und das, obwohl er gesagt hat, dass du meine neue Mutter sein würdest!«
»Das werde ich trotzdem sein«, erklärte Matilda. »Ich verspreche dir, ich werde dich immer lieben und mich um dich kümmern.« Sie wollte gern hinzufügen, dass sie Tabitha nie verlassen würde, doch das war ihr nicht möglich. Giles hatte ihr dasselbe versprochen, und nun, weniger als zwei Wochen später, war er fort.
Der Schmerz ließ nicht nach. Während des Tages quälte er Matilda unbarmherzig, und in der Nacht verwandelte er sich in Verzweiflung. Sie empfing die Beileidsbekundungen der Freunde, die der Beerdigung beiwohnten, doch die Verletzung in ihrem Inneren zeigte kein Anzeichen der Heilung. Sobald sie Giles’ Namen ausgesprochen hörte, seine Kleidung, seine Bibel oder seine Tochter berührte, brach die Wunde wieder auf. Dass der Mörder gefasst war und hängen würde, tröstete sie nicht.
In ihrem Herzen war sie eine Witwe, doch in den Augen der meisten Menschen und der Kirche, die er so geliebt hatte, war sie nur eine Freundin der Familie Milson, und deshalb ahnten sie nicht, dass ihr Schmerz größer war als der ihrige. Dr. und Mrs. Treagar waren die Einzigen, die von der bevorstehenden Hochzeit gewusst hatten, und sie hatten mit keinem darüber gesprochen.
Weihnachten verging, ohne von Matilda und Tabitha wirklich bemerkt zu werden. Matilda hatte die Einladung der Treagars zum Essen am Heiligen Abend abgelehnt, weil sie wusste, dass sie beide nicht fähig sein würden, sich für diese Gelegenheit von ihrem Schmerz zu lösen. Sie gingen nicht einmal zur Kirche, denn es wäre zu schmerzhaft gewesen, den Pfarrer auf der Kanzel zu sehen, der Giles’ Platz eingenommen hatte. Stattdessen unternahmen sie einen langen Spaziergang um die Stadt und gingen erst nach Hause, als sie zu müde waren, um einen weiteren Schritt zu tun.
Matilda hatte sich noch nie so isoliert gefühlt. Sie lief durch die geschäftigen Straßen und fühlte sich dennoch allein, ja sogar unsichtbar. Nachts fand sie keinen Schlaf, und sie konnte nicht essen. Ihre Haushaltspflichten erledigte sie völlig mechanisch und ohne Antrieb.
Mitte Januar achtzehnhundertachtundvierzig erhielt sie einen Brief des Dekans aus St. Louis, der sie informierte, dass das Pfarrhaus bis zum Ende des Monats geräumt sein musste. Die Wirklichkeit schlug ihr mit Wucht ins Gesicht, und sie erkannte plötzlich, dass die Trauer nicht ihr größtes Problem war. Sie war völlig mittellos. Sie besaß nur die zwanzig Dollar, die man in Giles’ Tasche gefunden hatte, als er getötet worden war, und weitere achtzig Pfund, die noch in der Haushaltskasse gewesen waren. Giles hatte seine finanzielle Situation nie mit ihr besprochen – wenn es Ersparnisse gab, wusste sie nichts davon und hatte ohnehin keinen Anspruch darauf. Selbst wenn Tabitha alles erben würde, was ihr Vater besessen hatte, würde es ihr nicht vor ihrer Volljährigkeit zugesprochen werden. Doch wie sollte sie ohne Geld für Tabitha sorgen?
Da sie keinen Menschen hatte, mit dem sie diese Dinge besprechen konnte, wandte sie sich an Dr. Treagar. Er hörte ihr zu und las den Brief des Dekans. Seine beunruhigte Miene ließ nichts Gutes hoffen.
»Wie herzlos von ihm«, murmelte er und kratzte sich den Kopf. »Ich verstehe ja, dass das Haus für einen neuen Pfarrer geräumt werden muss, aber ich hätte erwartet, dass er ein wenig mehr Geduld und Mitleid zeigen würde, da Tabitha doch ihren letzten lebenden Elternteil
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