Lesley Pearse
ihren Lagern darunter hervor.
»Sind es Indianer?«, rief jemand, und dann, ohne dass Matilda die Chance hatte, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, lief Captain Russell mit freiem Oberkörper und einer Pistole in der Hand auf die versammelte Gruppe zu.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, rief Matilda. »Ich habe nur einen Wapiti geschossen.«
Der Captain lief durch den Fluss und beugte sich über das tote Tier. »Wo zur Hölle hat eine englische Lady so schießen gelernt?«
Matilda flüchtete vor seinem Blick und denen der anderen Männer, um sich vollständig anzuziehen. Sie hatte das starke Gefühl, heute das Gesprächsthema des Tages zu werden.
Gegen Mittag saß Matilda im Schatten des Wagens und nähte ein paar Kleinigkeiten an dem Kleid um, das sie geschenkt bekommen hatte. Sie genoss die Stille, die sich über das Camp gelegt hatte. Früher am Tage hatte geschäftiges Treiben geherrscht, Frauen hatten gewaschen, die Betten gelüftet, Kinder hatten sich etwas zugerufen, während sie mit ihren Kanistern Wasser am Fluss geholt hatten. Die Männer hatten mit lautem Hämmern die Schäden an den Wagen repariert, die während der Fahrt durch das Gebirge entstanden waren. Doch jetzt war es ruhig, denn die meisten Leute hatten sich unter die Bäume am Fluss gelegt, um auszuruhen. Herrliche Gerüche von Fleisch, das auf den vielen Feuern zubereitet wurde, lagen über dem gesamten Camp.
Tabitha kam mit Treacle zu Matilda gelaufen. Aufgeregt und außer Atem ließen sich die beiden neben ihr auf den Boden fallen. Tabithas Sonnenhut war triefend nass. Vor ein paar Tagen hatte einer der Scouts ihr erklärt, dass sie die Hitze abhielten, indem sie ihre Hüte in Wasser tauchten, eine Angewohnheit, die Tabitha nun kopierte. Matilda konnte sich vorstellen, dass es mit Lederhüten gut funktionierte, aber sicher nicht mit einer Baumwollkappe.
»Am Fluss sprechen alle von dir«, erzählte Matilda aufgeregt. »Mrs. Jacobson, die Frau mit den neun Kindern, meinte, ich könnte stolz auf dich sein.«
»Ich weiß nicht, ob du das sein solltest«, antwortete Matilda mit einem Lächeln. »Ich denke, es ist eine Schande, ein so edles Tier zu töten.«
»Keiner der anderen denkt so.« Tabitha grinste. »Viele Leute hatten nichts mehr zu essen. Mrs. Jacobson sagte, ihre Kinder seien gestern hungrig zu Bett gegangen, und wenn die Männer heute nichts gefunden hätten, hätte sie nicht mehr weitergewusst. Die Männer sprechen auch alle über dich und fragen sich, wo eine englische Lady gelernt hat zu schießen.« Tabitha schien hocherfreut. »Dann habe ich noch bei Mrs. Donnier vorbeigeschaut, der Frau mit den kranken Kindern. Sie kochte gerade aus dem Fleisch eine Brühe für die Kinder und meinte, sie hoffe, es würde ihnen helfen. Ich habe ihr erzählt, dass du eine Menge über Krankheiten weißt. Sie hat mich gefragt, ob du vielleicht kommen könntest, um dir die Kinder anzusehen?«
Matilda hatte sich bisher über ihre neue und plötzliche Beliebtheit gefreut, aber bei Tabithas Worten wandte sie sich mit Schrecken in den Augen an das Kind. »Oh, Tabby, das kann ich nicht tun!«, murmelte sie. »Sie könnten etwas Ansteckendes haben.«
Tabitha blickte sie fassungslos an. »Du klingst wie Mama«, entgegnete sie vorwurfsvoll. »Sie hatte auch immer Angst, sich anzustecken. Ich dachte, du wärst mutiger.«
Tabithas Antwort wirkte, als hätte ihr jemand kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Matilda verstand plötzlich, wie egoistisch sie geklungen haben musste, darüber hinaus konnte sie auch zum ersten Mal nachvollziehen, welcher Instinkt hinter Lilys irrationaler Angst vor Krankheiten gesteckt haben musste.
»Und Mrs. Donnier sieht so traurig und besorgt aus«, fuhr Tabitha fort, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Kein anderer wird ihr helfen, und ich war so sicher, dass du es versuchen würdest.«
Ihre Worte erinnerten Matilda so sehr an Giles. Plötzlich schämte sie sich. Sie stand auf und reichte Tabitha die Hand. »Am besten zeigst du mir den Wagen der Donniers. Trotzdem sollst du ihm nicht mehr zu nahe kommen.«
Schon von weitem hörte Matilda den trockenen Husten der Kinder, der ihr verriet, dass sie wohl an den Masern erkrankt waren. Da weder sie noch Tabitha die Krankheit ein zweites Mal bekommen konnten, war sie ein wenig erleichtert. Doch als die weinende Mutter, verzweifelt die Hände ringend, auf sie zukam, konnte sie die Frau nur bemitleiden. Sie hatte dasselbe fahle, resignierte Aussehen
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