Lesley Pearse
zuckte mit den Schultern. »Mir scheint, es reicht aus, sie zu lieben und zu ernähren«, erklärte sie mit einem Ausdruck der Verwirrung in den Augen. »Welche Art Ausbildung sollten sie benötigen?«
»Für dich war so etwas vielleicht nicht notwendig«, räumte Matilda besänftigend ein. »Aber die Dinge ändern sich, Cissy. Wenn unsere Kinder erwachsen sein werden, müssen sie etwas gelernt haben. Sorgst du dich wegen Peter und Susanna denn nicht?«
»Sie können doch in die kleine Schule beim Sägewerk gehen, sobald sie alt genug sind«, meinte Cissy stur. »Ich und ihr Papa werden ihnen alles andere beibringen, was sie wissen müssen.«
Matilda verstummte. Sie wusste, dass ihre Freundin hoffte, ihre Kinder würden nie in die Nähe einer Stadt gehen, sondern hier bleiben und sich später um das Sägewerk kümmern. Matilda wollte sie nicht wegen ihrer naiven Zukunftshoffnungen tadeln, denn Cissy kannte die Gefahren, die von großen Städten ausgingen. Wahrscheinlich fürchtete sie, Bildung würde ihre Kinder neugierig auf die Welt jenseits dieser Berge und Kiefernwälder machen. Sie verstand Cissy und wusste, dass John und sie hart gearbeitet hatten, um diesen sicheren Hafen für ihre Kinder zu schaffen. Aber ihr war auch klar, dass die Idylle der Traum ihrer Freunde war und nicht ihr eigener.
16. K APITEL
A n einem Nachmittag Mitte Mai – Cissy und Matilda nahmen gerade die getrocknete Wäsche von der Leine – kam John auf seinem dampfenden Pferd in großer Eile in den Hof galoppiert.
»Was ist passiert?«, rief Cissy ihm entgegen, ließ die saubere Wäsche in den Korb fallen und eilte auf ihn zu.
John blieb gewöhnlich bis in die Abendstunden im Sägewerk und kam meist nicht vor halb sieben nach Hause. Matilda befürchtete deshalb gleich das Schlimmste, nämlich dass feindlich gesinnte Indianer gesichtet worden waren.
»Gold!«, schrie John und sprang vom Pferd. »Sie haben Gold in Kalifornien gefunden, kübelweise Gold.«
»Ist das etwa ein Grund, das Sägewerk zu verlassen, du Dummkopf?«, fuhr sie ihn an. »Wie kannst du solchen Märchen nur Glauben schenken?«
»Es ist kein Märchen«, entgegnete John entrüstet. »Es ist wahr, Cissy, und die Hälfte der Menschen in der Stadt bereitet sich schon auf ihre Abreise nach Kalifornien vor, um selbst Gold zu suchen.«
»Sie sind alle Dummköpfe«, gab Cissy zurück. »Wer hätte jemals davon gehört, dass Goldstücke auf dem Boden herumliegen!«
Matilda beschloss, sich aus dem Gespräch herauszuhalten, obwohl sie vermutete, dass die Neuigkeiten der Wahrheit entsprachen, da James Russell ihr bereits vor einem Jahr von diesen Gerüchten erzählt hatte. Deshalb fuhr sie fort, die Wäsche von der Leine zu nehmen.
»Heute wollte sowieso kein Mensch Holz kaufen«, berichtete John und zuckte die Schultern. »Du kannst dir nicht vorstellen, was los ist. Alle scheinen den Verstand verloren zu haben und suchen nach einem Weg, um nach Kalifornien zu gelangen.«
»Ich bin erstaunt, dass du nicht auch die Ochsen angespannt hast und gefahren bist«, erwiderte Cissy spitz. »Oder wolltest du auf dem armen Pferd dorthin reiten, das du schon halb zu Tode gepeitscht hast?«
»Habe ich vielleicht gesagt, ich wollte gehen?«, fragte er und nahm Cissy in den Arm. »Wie könnte ich jemals meinen Liebling und die Kleinen verlassen?«
Sein schelmischer Tonfall ließ Cissys Ärger ebenso schnell verrauchen, wie er aufgekommen war. Sie kicherte und erwiderte seine Umarmung. »Aber wieso bist du so schnell hergeritten?«
»Weil ich dachte, dass ihr vielleicht gern in die Stadt reiten würdet, um euch all den Trubel und die Menschen anzusehen, die Proviant und Werkzeug kaufen«, erklärte er. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
Über einer Tasse Kaffee beschlossen sie schließlich, dass es bereits zu spät war, aber sie nahmen sich vor, gleich am nächsten Morgen in die Stadt zu fahren. Cissy hatte noch eine Menge Gläser mit eingemachter Marmelade und anderen Vorräten vom letzten Herbst übrig, die sie verkaufen wollte. Am Morgen würden sie außerdem mindestens ein Dutzend frisch gelegte Eier haben.
»Vielleicht kann ich meinen Wagen dort verkaufen«, bemerkte Matilda nachdenklich. Er war seit ihrer Ankunft im Sägewerk untergestellt, und bislang war sie überzeugt gewesen, dass sie ihn nicht loswerden würde.
Sie sprachen den ganzen Abend über nichts anderes. John zählte die Bekannten auf, die sich bereits auf die Abreise vorbereiteten. Matilda berichtete von
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