Lesley Pearse
bis jemand auf mich zukommt und mir Aufträge erteilt.«
Anders als seine Frau, hatte John sich äußerlich nicht verändert. Sein Bart war zwar ein wenig buschiger und sein sandfarbenes Haar etwas dünner geworden, aber er sah immer noch so aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn kennen gelernt hatte, nämlich wie ein vernünftiger, hart arbeitender, muskulöser Mann. Und doch hatte Matilda in den vergangenen sechs Monaten erkannt, dass er anders war als die vielen Menschen, die nur gemütlich durchs Leben gingen und immer den einfachsten Weg wählten. Er war intelligent, ehrgeizig und vor allem vorausschauend.
John hatte oft seiner Furcht Ausdruck verliehen, das wunderschöne Oregon mit seinen Bergen, Wäldern und breiten Flüssen könnte leicht zerstört werden, wenn nicht bald jemand die undurchdachten Baumethoden einschränkte und rücksichtslose Spekulanten aufhielt. Aber um seiner Stimme für diesen Ort, den er lieben gelernt hatte, Gehör zu verschaffen und den Bau der sorgfältig geplanten Städte, die er sich vorstellte, ermöglichen zu können, musste er sein Sägewerk zum erfolgreichsten der Umgebung machen. Ansonsten würde keiner auf ihn hören.
Matilda atmete tief ein. »Ich könnte für dich gehen«, platzte sie heraus. »Ich weiß, dass ich mich mit Holz nicht auskenne, aber du könntest mir Ansichtsstücke zum Herumzeigen mitgeben. Ich könnte alle Zimmerleute und Bauherren aufsuchen und herausfinden, von wem sie ihr Holz beziehen. Wenn du nur ein paar große Aufträge bekommst und die Leute sehen, dass das Holz eine gute Qualität hat, werden sie dir sicherlich alle Folgeaufträge erteilen, solange du zuverlässig bist.«
John starrte sie an, wobei seine Augen vor Überraschung rund wurden, dass eine Frau an so etwas überhaupt denken konnte. »Das kannst du nicht«, murmelte er schockiert.
»Warum nicht?«, beharrte sie. »Weil ich eine Frau bin? Ich habe einen Planwagen über zweitausend Meilen allein gefahren. Ich habe bereits als Kind Blumen in den Straßen verkauft, und ich kann hervorragend verhandeln. Ich muss ohnehin bald eine Arbeit finden. Warum also sollte ich nicht etwas tun, von dem wir alle profitieren könnten?«
»Cissy wäre damit nicht einverstanden«, erinnerte er sie und schüttelte den Kopf.
»Meinst du, sie will nicht, dass ich für dich arbeite, oder möchte sie während meiner Abwesenheit nicht auf meine Kinder aufpassen?«, fragte Matilda.
»Natürlich würde sie sich um Amelia und Tabitha kümmern«, erklärte er schnell. »Aber sie möchte sicher nicht, dass du fortgehst. Sie würde sich zu große Sorgen machen. Es könnte gefährlich sein für eine allein stehende Frau.«
»Aber sie weiß, dass ich irgendwann fortgehen muss«, entgegnete sie ruhig. »Es ist doch besser, wenn ich arbeite, um euren Wohlstand zu mehren, als in einem Geschäft zu arbeiten.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gab er stirnrunzelnd zu. »Ich habe angenommen, du denkst wie Cissy über die Männer, die losfahren und sich in den Goldrausch stürzen.«
»Ich glaube, dass diejenigen, die sich einbilden, sie könnten eimerweise Gold finden, wirklich auf dem Holzweg sind«, sie lachte. »Aber was wir heute in Oregon gesehen haben, entspricht wahrscheinlich der Situation in ganz Amerika, und es wird Millionen solcher Narren geben, die nach Kalifornien pilgern. Stell dir nur einmal vor, John, all diese Männer brauchen Holz. Entweder, um Häuser zu erbauen, oder aber auch nur, um Feuer machen zu können.«
John stützte die Ellbogen auf die Knie und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Matildas Vorschlag schien ihn verwirrt zu haben.
»Denk einfach zwei Tage darüber nach«, bat sie ihn, bevor sie aufstand, um wieder ins Haus zu gehen. »Ich weiß, dass ich dazu in der Lage wäre. Ich würde mit dem Schiff fahren, weil es schneller geht. Sobald ich Aufträge erhalten hätte, würde ich heimkehren. Du könntest mir Provision auf jeden Auftrag geben. Ich hasse den Gedanken, Tabitha und Amelia auch nur für wenige Tage zu verlassen, aber wenn wir erfolgreich sind, kann ich sie vielleicht irgendwann mitnehmen und dort mit ihnen wohnen.«
Zwei Tage später, an einem Sonntag, als Matilda gerade die Wassereimer am Fluss füllte, kam John auf sie zu.
»Ich glaube, dein Plan könnte funktionieren«, sagte er und nahm ihr einen der vollen Eimer aus der Hand. »Ich werde es Cissy heute erklären.«
Matilda blickte ihn an. Er sah müde aus und hatte Ringe unter den Augen, offensichtlich hatte
Weitere Kostenlose Bücher