Lesley Pearse
Henry genau, wann und wo Matilda und der Reverend die Kinder gerettet hatten und wie sie das Waisenhaus in New Jersey eröffnet hatten. »Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre ich sicher nicht mehr am Leben«, beendete er seine Erzählung. »Aber behalten Sie es für sich. Sie spricht nicht mehr gern über den Reverend. Es ist zu traurig, dass erst seine Frau starb und er selbst später erschossen wurde. Sie denken, sie wäre hart wie Stein, aber das ist sie nicht. Sie ist eine wirklich warmherzige Lady.«
Henry ging später weiter, um sich mit anderen Leuten zu unterhalten, aber Sidney hatte ihm einen neuen, unerwarteten und sehr reizvollen Blick auf Matilda vermittelt. Als weltlicher und scharfsinniger Mann erriet er, dass Reverend Milson der Vater Amelias sein musste. Wahrscheinlich war es ihm nicht gelungen, sie zu heiraten, bevor er erschossen worden war. Doch anstatt schockiert zu sein, war Henry tief gerührt.
Etwa eine Stunde später sah Sidney, wie Matilda flach auf den Rücken fiel, nachdem sie versucht hatte, den Cancan zu tanzen und dabei auf höchst unanständige Weise ihre Beine entblößt hatte. Er kämpfte sich durch die anderen Tänzer und hob sie hoch. »Komm jetzt, Matty, es ist Zeit, ins Bett zu gehen.«
Matilda wehrte sich, aber Sidney fasste sie um die Taille, hob sie auf seine Schulter und trug sie die Treppe hinauf. Er legte sie auf das Bett und knöpfte ihre Stiefel auf. Gerade wollte er sie zudecken und aus dem Raum schlüpfen, als sie plötzlich zu dem Schränkchen neben ihrem Bett taumelte.
»Was brauchst du noch?«, fragte er.
»Schau mal hier rein«, sagte sie und deutete zu dem Schrank. »Ich hab es immer noch und den Brief auch.«
Verwirrt öffnete Sidney die Schranktür. »In der Holzkiste«, erklärte sie. »Öffne sie!«
Er kam ihrem Wunsch nach und erblickte das Spitzentaschentuch, das er ihr in Independence geschenkt hatte. Er rollte es auf und sah, dass die sechs Cent noch darin eingewickelt waren, genau wie der Zettel, den er mit kindlicher Handschrift beschrieben hatte.
»Du hast es aufbewahrt!«, rief er, und die Kehle schnürte sich ihm plötzlich zu.
»Natürlich habe ich das«, stimmte sie zu und ließ sich wieder in die Kissen sinken. »Es bedeutet mir die ganze Welt. Ich habe es sogar in meiner Tasche bei mir getragen, als ich im Kanu den Columbia River hinuntergefahren bin. Wenn ich einmal sterbe, möchte ich, dass ihr es mir in den Sarg legt.«
Sidney war von seinen Gefühlen völlig überwältigt. Sein erstes Treffen mit Matilda war für ihn der wichtigste Meilenstein in seinem Leben gewesen. Allerdings hatte er nicht gewusst, dass es ihr ebenfalls so viel bedeutete. Er lehnte sich vor und küsste ihre Wange. »Es wird noch sehr lange dauern, bis du stirbst«, flüsterte er. »Und ich liebe dich.«
»Bewahre deine Liebe besser für jemanden in deinem Alter auf«, kicherte sie, aber sie ergriff seine Hand und küsste sie. »Und erinnere mich morgen Früh bloß nicht daran, wie betrunken ich war.«
An einem Morgen im März sah Matilda, dass sich die Narzissenknollen, die sie im Herbst in kleine Töpfe auf der Veranda gepflanzt hatte, schließlich in der Sonne geöffnet hatten. Blumen waren in dieser Stadt eine Seltenheit, alles war schnelllebig, und die Menschen dachten nicht daran, einen Garten anzulegen. Allein der Anblick der Blüten trieb ihr die Tränen in die Augen und rief nostalgische Erinnerungen an England wach. Doch gleichzeitig schienen ihr die bunten Farben signalisieren zu wollen, dass sie ihre Trauer um Zandra ablegen und in die Zukunft blicken sollte.
Erst vor wenigen Wochen hatte sie von Charles Dubrette erfahren, dass Zandra ihr den größten Teil ihres Vermögens hinterlassen hatte. Darunter war nicht nur ihr Anteil an London Lil’s, sondern auch zwölftausend Dollar und eine wertvolle Juwelensammlung. Offenbar hatte Zandra ihr Ende vorausgeahnt, denn im vergangenen September hatte sie einen Brief an Charles Dubrette geschrieben, um ihr Testament zu machen. Sie hatte Charles auch gebeten, Matilda nach ihrem Tode zu sagen, dass sie sie als ihre eigene Tochter angesehen hatte und ihr dafür danken wollte, ihre letzten Jahre so bereichert zu haben.
Matilda war sich immer bewusst darüber gewesen, dass nur Zandras Ermutigungen, ihr Wissen und ihre Beziehungen sie zum Erfolg geführt hatten. Ohne diese scharfsinnige Frau hinter sich hätte sie niemals ein solch hohes Ziel angepeilt. Aber jetzt, durch Zandras Erbe, hatte ihr Leben einen weiteren
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