Lesley Pearse
Sommer war dieser Ort mit seinem sagenhaften Ausblick und dem duftenden Gras der bevorzugte Treffpunkt verliebter Pärchen. Sicher hatte die warme Sonne die beiden verführt, nach einer abgeschiedenen Stelle zu suchen, an der sie sich lieben konnten.
Sie fand, die beiden sahen von hinten aus wie sie selbst und Flynn damals. Sie schienen sehr arm zu sein, und während Matilda weiterlief, dachte sie an die Gefühle, die Flynn damals in ihr ausgelöst hatte, an die Erregung und an all die Träume, die geplatzt waren. Es war seltsam, dass sie auf eine Liebe, die ihr einst so bedeutend erschienen war und die am Ende so verzehrend und schmerzhaft gewesen war, nun mit einem Lächeln zurückblicken konnte. Sie wünschte sich, auch James aus ihren Gedanken verbannen zu können, und hoffte, dass sich wenigstens der Schmerz und die Reue irgendwann in angenehme Erinnerungen verwandeln würden. Aber er hielt ihr Herz sogar nach all den Monaten noch fest umschlossen. Vielleicht hätte sie ihn tatsächlich suchen und ein Leben als seine Geliebte in Kauf nehmen sollen, so wie Zandra es ihr geraten hatte.
Aber es war jetzt zu spät, um ihre Entscheidung zu bedauern. Er war weit entfernt in New Mexico, und sie musste sich an den Rat ihres Vaters halten, niemals zurückzublicken.
Während sie weiterging, sah sie sich um. Das Meer glitzerte, eine sanfte, warme Brise wehte, und das einzige Geräusch war das Gekreisch der Möwen. Sie genoss die salzige Seeluft und fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten leicht und gelassen. Vielleicht war sie langsam auf dem Weg der Besserung, und es geschah in ihrem Leben bald etwas Neues.
Ein paar Wagen passierten sie, und Menschen auf Pferden ritten an ihr vorbei, während sie in Richtung Presidio ging, von wo aus sie einen Weg zurück zur Stadt nehmen wollte. Am Horizont waren ein paar schwarze Wolken zu sehen, aber sie schenkte ihnen keine Beachtung. Ein Mann in einem Einspänner fragte sie, ob er sie mit zurücknehmen sollte, da bald ein Sturm aufkommen würde, aber er sah nicht sehr vertrauenswürdig aus, und da sie den Spaziergang genoss, lehnte sie ab und ging weiter.
Etwa eine Meile später verschwand die Sonne plötzlich. Matilda schaute zum Himmel und sah, dass er vollkommen schwarz war. Erschrocken drehte sie um. Es war hier in San Francisco durchaus üblich, dass kalter, dichter Nebel von der See ins Landesinnere zog, aber dies war mehr, und innerhalb von Sekunden fielen bereits die ersten Regentropfen.
Plötzlich war auch kein Mensch mehr zu sehen, kein Spaziergänger, kein Wagen oder Reiter, und als der Regen stärker wurde, verwandelte sich der Pfad schnell in Schlamm. Matilda bedauerte, das Angebot des Mannes abgelehnt zu haben, denn er hatte Recht gehabt, es war wirklich ein Sturm und kein kleiner Schauer. Es wurde schnell dunkel, und sie hatte noch drei oder vier Meilen bis zu einem Unterschlupf zu gehen.
Sie hob die Röcke und begann zu laufen, aber der Weg hatte sich in Morast verwandelt, und sie rutschte und sank ein. Ihr Mantel war vollkommen durchnässt, ihr Filzhut tropfte, und ihre Stiefel ließen das Wasser ein.
Sie kämpfte sich weiter vor, den Kopf zu Boden geneigt, aber der Wind ließ sie von Minute zu Minute langsamer werden. Er zerrte an ihrer durchnässten Kleidung und ließ sie vor Kälte zittern. Doch es war die immer bedrohlicher werdende Finsternis, die ihr am meisten Angst bereitete. Sie hatte geglaubt, es wäre etwa vier Uhr, aber vielleicht war es schon viel später. Es war wirklich zu unsicher für eine Frau, allein durch die Dunkelheit zu laufen. Matilda wusste nicht einmal sicher, ob sie den richtigen Weg genommen hatte. Was, wenn sie ihn verfehlt hatte und nun auf die Klippe zusteuerte? Sie konnte zwar das Meer nicht hören, aber der Regen prasselte so ohrenbetäubend auf sie nieder, dass sie sicher nicht einmal einen Kanonenschuss vernommen hätte.
Im Schneckentempo lief sie weiter und weiter. Mit jedem Schritt wuchs ihre Erschöpfung, und sie fror erbärmlich. Plötzlich hörte sie Hufschlag und das Klirren von Sporen. Es musste eine recht große Gruppe Reiter sein, und sie kamen geradewegs auf sie zu. Kein Geräusch war ihr jemals willkommener gewesen. Es müssen Soldaten auf ihrem Weg zum Presidio sein, überlegte sie. Schon konnte sie die Schatten der Männer auf ihren Pferden sehen. Sie hob die durchnässten Röcke und lief auf sie zu.
»Bitte helfen Sie mir. Ich habe mich in der Dunkelheit verlaufen«, rief sie laut.
Ihr Instinkt riet ihr,
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