Lesley Pearse
Aufschwung erhalten. Ihr standen nunmehr fast alle Möglichkeiten offen.
Doch anstatt an Investitionen oder neue Geschäftsideen zu denken, bemerkte sie, wie sie ständig von der Rückkehr nach England träumte. Tabitha war vor Weihnachten dreizehn geworden und hatte nun das richtige Alter erreicht, um dort auf eine dieser eleganten Schulen für junge Mädchen zu gehen. Amelia würde von einer Gouvernante profitieren können. In diesem Land gab es außerdem nichts, das sie an James erinnerte.
Matilda beabsichtigte, bald nach Oregon zu reisen und Tabithas Zukunft mit Reverend Glover zu besprechen. Er war ein guter, freundlicher Mann, und seitdem Tabby bei ihm und seiner Frau wohnte, schickte er ihr einen monatlichen Bericht über ihre Lernfortschritte. Er konnte bezüglich ihrer weiteren Erziehung am besten raten, denn er wusste, wie begabt Tabitha war und wie weit ihre Fähigkeiten reichten. Vielleicht würde Matildas Weg genauere Konturen annehmen, wenn er ihr raten sollte, nach England zurückzukehren.
Am Nachmittag saß Matilda im Wohnzimmer und schrieb ihre wöchentlichen Briefe an Tabitha und Cissy, als plötzlich Dolores das Zimmer betrat.
»Sie sollten raus in die Sonne gehen, Ma’am«, meinte sie vorwurfsvoll. »Sie verbringen viel zu viel Zeit im Haus, das ist nicht gut für Sie.«
Matilda lächelte. Dolores war ihr wirklich ein Rätsel. Sie war die perfekte Bedienstete, kompetent, loyal und absolut vertrauenswürdig. Seit Zandras Tod hatte sie all die Sorge und Hingabe, die sie ihrer früheren Herrin geschenkt hatte, auf Matilda übertragen. Doch obwohl sie Matilda ständig bemutterte und sie stets überreden wollte, mehr zu essen und weniger zu arbeiten, war es ihr bislang nicht gelungen, die Distanz der schwarzen Frau zu durchbrechen und zu ihren wahren Gefühlen durchzudringen.
Zandra hatte ihr damals erzählt, Dolores sei vor langer Zeit halb verhungert und in Lumpen in ihrem Salon aufgetaucht. Sie war von einer Plantage geflüchtet, nachdem ihre Mutter an einen anderen Besitzer verkauft worden war. Dolores schien außerdem vergewaltigt worden zu sein, aber sie hatte dies nie bestätigt oder verneint. Von Anfang an hatte sie sich als äußerst lernfreudiges Mädchen gezeigt. In nur wenigen Jahren entwickelte sie sich zu einer begabten Schneiderin und konnte das Haar der Frauen elegant frisieren. Doch es war ihre bedingungslose Loyalität, durch die sie sich der Comtesse unentbehrlich machte. Doch Zandra zufolge hatte Dolores in über zwanzig Jahren nie Emotionen gezeigt und ihr niemals etwas Persönliches erzählt.
Ihre Reaktion auf den Tod ihrer langjährigen Herrin hätte Zandra sicher sehr bewegt, hätte sie sie sehen können. Dolores hatte zwei Tage die Totenwache in ihrem Raum gehalten und Mitleid erregend geweint. Aber als dies vorüber gewesen war, hatte sie wieder ihre frühere würdevolle Haltung angenommen und Matilda gefragt, ob sie als ihre Bedienstete bleiben könne.
»Vielleicht hast du Recht«, erwiderte Matilda, warf einen Blick aus dem Fenster und dachte daran, wie einladend der Sonnenschein war. Sie war seit Zandras Tod kaum noch draußen gewesen. »Vielleicht gehe ich ein wenig spazieren.«
Dolores strahlte. »Gutes Mädchen«, sagte sie, als wäre Matilda ein kleines Kind. Dann ging sie auf das Fenster zu, berührte die Samtgardinen und rümpfte die Nase. »Ich werde die Vorhänge abnehmen, wenn Sie fort sind, und sie ordentlich durchbürsten.«
Matilda zog ihre robustesten Stiefel an, setzte sich einen einfachen Hut auf und warf sich ein altes graues Cape über die Schultern. Sie blickte in den Spiegel und verzog die Miene. Sie sah blass aus, und das wenige Haar, das sich unter ihrem Hut zeigte, war farblos. Sie hatte wirklich zu viel Zeit im Haus verbracht.
Als sie durch den geschlossenen Gastraum ging, füllte Sidney gerade die Bar für den Abend auf. Seit Zandras Tod war er aus Gründen des Anstands in Dolores’ früheren Raum hinter der Bar gezogen, während sie selbst im oberen Stockwerk eingezogen war.
»Ich unternehme einen Spaziergang«, rief sie. »Wir sehen uns beim Abendessen.«
»Geh nicht zu weit, es wird später regnen«, antwortete Sidney.
Matilda lächelte über seine Bemerkung, während sie den California Street Hill hinunterlief. Es war kein Wölkchen am Himmel zu sehen und so warm, dass ein Mantel beinahe überflüssig war. Ein junges Paar lief Hand in Hand an ihr vorbei, und Matilda vermutete, sie waren auf dem Weg zur Lichtung auf dem Hügel. Im
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