Lesley Pearse
Vergangenheit und Wurzeln so leicht vergessen? Sie war überzeugt, dass viele ihrer Erfahrungen aus den vergangenen, harten Zeiten es sicher wert wären, mit in ihr neues Leben genommen zu werden.
Während Matilda langsam einschlief, lag Lily Milson vollkommen wach im Bett neben ihrem Mann und war wegen des neuen Kindermädchens äußerst besorgt.
»Sie isst wie eine Wilde, Giles«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Sie reißt das Essen auseinander, kaut mit offenem Mund – und diese Geräusche, die sie beim Trinken macht!«
»Sie kann nichts dafür, keiner hat es ihr jemals beigebracht«, erwiderte Giles beruhigend. »Denk doch mal daran, wie gut sie zu Tabitha ist. Sie hat sie heute Abend genauso zärtlich und vorsichtig gebadet wie du.«
»Aber was werden wir tun, wenn Tabitha ihre Art zu reden und zu essen annimmt?«
Er legte den Arm um seine Frau und kuschelte sie an seine Schulter. »Dann werden wir ihnen beiden gute Manieren beibringen«, sagte er einfach. »Schlaf jetzt, Liebes. Wir werden gemeinsam etwas aus ihr machen. Sie ist stark, lernfähig und intelligent. Ich denke, wir haben einen ungeschliffenen Diamanten gefunden.«
Er spürte, wie steif und angespannt seine Frau war. Sie würde sicherlich die halbe Nacht wachliegen und sich fürchterliche Geschichten ausmalen. Doch weil er wusste, dass er nicht mehr zu ihrer Beruhigung vorbringen konnte, gab er vor, eingeschlafen zu sein.
Giles bewunderte eigentlich die Güte seiner Frau, ihren Mangel an Eitelkeit, ihre Bemühung, das Familienleben harmonisch zu gestalten, und ihre häuslichen Fähigkeiten. Aber manchmal spürte er, dass er besser eine weltklügere und robustere Frau gewählt hätte. Sie sorgte sich wegen der unbedeutendsten Kleinigkeiten, und seit Tabithas Geburt war sie fahrig und furchtsam. Hier in St. Marks war sie sicher die perfekte Pfarrersgattin, da alle um sie herum der Klasse entstammten, in die sie selbst hineingeboren worden war. Aber wie würde sie sich zurechtfinden, wenn er jemals an einem anderen Ort arbeiten würde?
Die letzten Jahre in Primrose Hill waren sehr angenehm gewesen, doch Giles hatte sich nicht für diesen Beruf entschieden, um sich Wohlstand und Annehmlichkeiten zu sichern. Seiner Meinung nach würde für St. Marks auch ein älterer Pfarrer infrage kommen, der am liebsten den bereits Bekehrten predigte, während man ihn selbst besser an einen Ort senden sollte, an dem er mehr gefordert würde.
Mit dem Bischof von London, der seine Ansicht teilte, hatte er hierüber schon des Öfteren lange diskutiert, aber das Problem lag bei Lily. Ihre Befürchtungen bezüglich Matilda waren ein exakter Spiegel ihres allgemeinen Verhaltens gegenüber den Armen. Sie fühlte zwar mit ihnen und verurteilte Ungerechtigkeiten genauso vehement wie er, doch Schmutz und die Möglichkeit von Krankheit stießen sie so ab, dass sie wahrscheinlich selbst krank werden würde, wenn man sie zwingen würde, nah bei den Armen zu leben. Vielleicht war genau diese Befangenheit seiner Frau der Grund, warum er Matilda so vorschnell ein Angebot unterbreitet hatte. Wenn das Mädchen sich hier bewähren würde und seine Frau dadurch bewegen könnte, ihre Ängste zu überwinden, wäre Lily möglicherweise bald bereit, mit ihm weiterzuziehen. Vielleicht würde – wenn Lily ein wenig Arbeit abgeben konnte – auch die Frau wieder zum Vorschein kommen, die er geheiratet hatte. Es war schon lange her, dass sie ihm mit Leidenschaft begegnet war.
Der Bischof hatte gesagt, dass junge englische Geistliche in Amerika dringend gebraucht würden, und Giles wusste in seinem tiefsten Inneren, dass dies der Weg war, den Gott ihn gehen sehen wollte. Dennoch wünschte er sich, dass seine Frau ihm freudig und gewillt auf diesem Pfad folgen würde.
Eine Woche später, am Sonntagmorgen, saß Matilda mit Lily und Tabitha in der Kirche und schaute zu Reverend Milson auf der Kanzel hoch. Sie fand, dass er sehr gut aussah mit seinen glänzenden schwarzen Locken, die fast seine Schultern berührten. Auch die Kirche fand Matilda wunderschön, besonders die Fenster mit den bunten Bildern. Ein leichter Blumenduft lag in der Luft. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und all die Menschen betrachtet. Das Rascheln von Seide und der Geruch der verschiedenen Parfums waren so fesselnd, aber sie wusste genau, dass Lily sie später testen würde, wenn sie merkte, dass Matilda nicht an Giles’ Lippen hing.
Er hielt seine heutige Predigt über die Todsünde der Habsucht. Sie
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