Lesley Pearse
wollte diesen Begriff gern verstehen, doch sie hatte schon lange den Faden verloren, da Tabitha sie vom Zuhören abhielt. Sie saß neben Matilda und ihrer Mutter, wand sich und trat gegen die kleine Betbank vor ihnen. In ihrem gelben Kleidchen und den passenden Schuhen sah sie herzallerliebst aus, aber Matilda war inzwischen klar geworden, dass dieses Mädchen nicht so brav war, wie es aussah, und eine strenge Führung benötigte.
Auch Lily war anders, als Matilda erwartet hatte. Sie hatte eine freundliche Natur, war in den meisten Angelegenheiten fair und gerecht, doch in vielen Beziehungen auch sehr penibel. Nichts entging ihrem strengen Blick, kein Haar, das sich aus Matildas Haube gelöst hatte, kein Staubkörnchen auf den Möbeln. Die Rechnungen der Lieferanten prüfte sie mehrmals, und jedes Wäschestück wurde auf verbliebene Flecken untersucht. Matilda vermutete, dass die meisten Damen sich so verhielten, aber sie hatte dennoch den Eindruck, dass Lily unterschwellig traurig war und ein Leid verbarg, als wäre in ihrem Leben etwas nicht in Ordnung, und sie deshalb doppelt so hart arbeitete, um vorzutäuschen, dass alles wunderbar wäre.
Aggies größter Vorwurf gegenüber Lily war die Art und Weise, wie sie nichts verschwendete. Sie meinte, dass eine Dame sich nicht durch solchen Geiz erniedrigen sollte. Doch Matilda war nicht sicher, auf wessen Seite sie stehen sollte. Da sie die meiste Zeit ihres Lebens hungrig gewesen war, freute sie sich, dass übrig gebliebenes Fleisch und Gemüse zu Suppen verarbeitet wurden – und nicht mehr ganz frisches Brot zu Pasteten. Dennoch wurde sie den Gedanken nicht los, dass sie an Lilys Stelle die wenigen Reste an die Armen auf der Straße verteilen würde.
Matildas Gedanken wandten sich wieder der Predigt zu, als sie das Wort »Maßlosigkeit« hörte. Sie war in der letzten Woche mehrfach wegen ihres »undamenhaften Appetits« zurechtgewiesen worden, wie Lily es nannte. Doch was konnte sie dagegen tun, da sie doch ihr Leben lang hungrig gewesen war? Die Mahlzeiten, die Aggie zubereitete, ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen, und es gab so viele Dinge, die sie vorher nie probiert hatte. Die Ochsenschwanzsuppe war so gut, dass sie ganze Kübel davon trinken konnte. Fleischsaft über gerösteten Kartoffeln, Reispudding und Schokoladenkuchen … Sogar an den Abenden, wenn sie zum Beten ins Wohnzimmer gerufen wurde, schweiften ihre Gedanken zu Aggie ab, und sie überlegte dann, was sie wohl am kommenden Tag kochen würde.
Doch Matilda hatte nicht nur erfahren, dass Tabitha und Lily nicht waren, wie sie schienen, sondern auch ihre Arbeit stellte sich als sehr viel anstrengender heraus, als sie vermutet hatte. Tatsächlich war sie abends oft noch erschöpfter als zu ihren Zeiten als Blumenmädchen. Lilys Liebe zur Sauberkeit forderte Matilda eine Menge Arbeit ab. Sie musste eimerweise heißes Wasser zum Putzen die Treppen hochschleppen und sie dann zum Leeren wieder hinuntertragen. Jeder Nachttopf musste mit brühend heißem Wasser gereinigt, die Bettwäsche ausgekocht werden.
Morgens brauchte sie eine gute Stunde, um Tabitha anzuziehen. Erst musste sie von Kopf bis Fuß gewaschen werden, und nachdem sie ihr Geschäft auf dem Nachttopf erledigt hatte, musste ihr Haar gebürstet werden. Schließlich musste Matilda ihr all die Wäsche und Unterröcke anziehen, bevor sie ihr das Kleid überstreifen konnte.
Die Mahlzeiten waren eine unendlich andauernde, anstrengende Prozedur, während der Matilda unter scharfer Beobachtung durch Lily stand. Sie musste nicht nur darauf achten, ihr Essen nicht hemmungslos herunterzuschlingen, sondern auch noch die zahlreichen Regeln beachten. Messer durfte man nur zum Schneiden benutzen und um damit Essen auf die Gabel zu schieben. Das Glas nahm man mit der rechten Hand, die Lippen mussten beim Kauen geschlossen bleiben, Fruchtkerne durften nicht ausgespuckt, sondern mussten auf den Tellerrand gelegt werden. Allem voran musste sie natürlich Tabitha helfen und sie dazu bewegen, alles zu essen, was gekocht wurde.
In den vergangenen Tagen war Matilda des Öfteren der Gedanke gekommen, dass die oberen Klassen einiges von den Armen lernen konnten, besonders was die Kindererziehung anging. Kleinkinder wurden schneller trocken, weil man ihnen nicht so oft die Windeln wechselte. Sie aßen alles, was man ihnen vorsetzte, da sie nicht wussten, wann man ihnen das nächste Mal etwas anbieten würde. Außerdem konnten sie sich beim Spielen viel
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