Lesley Pearse
hatte er den tiefen Abgrund zwischen den Klassen überbrückt und ihr einen Weg gezeigt, die Sympathie der Milsons zu erlangen. Alles, was sie tun musste, war, ihr Kind zu lieben.
»Ich hatte beinahe vergessen, dass Sie sich mit Kindern bestens auskennen, Mr. Jennings«, meinte Lily, wobei ihr verkniffenes Gesicht plötzlich fast hübsch aussah. »Natürlich versucht man, ihnen beizubringen, mit Fremden vorsichtig zu sein, aber es scheint, dass Tabitha eine gute Menschenkenntnis hat.«
»Sie erinnert mich an die Zeit, als Matty noch klein war«, gab er zurück und schaute zärtlich zu dem kleinen Mädchen hinab. »Sie kletterte damals immer auf meinen Schoß, sobald ich mich hingesetzt hatte. Die Jungen waren eher zurückhaltend.«
Matilda lehnte sich in erstauntem Schweigen zurück, als ihr Vater und Lily weiter über Kinder plauderten. Sie hatte nicht erwartet, dass sich Lucas mit Menschen außerhalb seiner Klasse unterhalten könnte, schon gar nicht über häusliche Angelegenheiten. Erst nachdem der Tee nachgefüllt worden war, brachte Giles schließlich das Gespräch auf Matildas zukünftige Pflichten.
»Deine Hauptaufgabe wird sein, im Kinderzimmer auf Tabitha aufzupassen«, erklärte er. »Aber wenn sie schläft oder mit Mrs. Milson unterwegs ist, solltest du Aggie auch ein wenig im Haushalt helfen. Wir würden dir einen Shilling im Monat zahlen, und am Dienstag hättest du deinen freien Nachmittag.«
Ihre zukünftige Arbeit schien sehr leicht zu bewältigen zu sein, überlegte Matilda. Immerhin war sie es schon gewohnt gewesen, allein auf zwei Kinder aufzupassen, als sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen war, und damals hatte sie nicht den Luxus gehabt, der sie hier erwartete. Natürlich hatte sie noch nie ein Bügeleisen benutzt oder Silber poliert, und auch ihre Kochkünste waren eher begrenzt, doch sie war überzeugt, diese Dinge schnell lernen zu können.
Als Lucas das Läuten der Uhr hörte, spürte er, dass er nun derjenige war, der alles abschließen musste. Er war vollkommen überzeugt, dass Matilda hier gut aufgehoben sein würde, aber auch er hatte eine gewisse Zurückhaltung auf Lilys Seite gespürt. »Ich hoffe, ich dränge Sie nicht, doch ich muss zurück zu meinen Jungen«, erklärte er und stand auf. »Möchten Sie beide, dass Matilda für Sie arbeitet, oder wird sie mit mir nach Hause kommen?«
Giles schaute zu seiner Frau hinüber, die ihm zustimmend zunickte. »Natürlich möchten wir, dass sie für uns arbeitet, Mr. Jennings«, antwortete er, während er aufstand und dem Mann die Hand schüttelte. »Wenn Sie einverstanden sind, kann sie direkt beginnen. Ich hoffe nur, dass Sie ohne Matildas Hilfe mit den Jungen zurechtkommen.«
»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, entgegnete er mit einem breiten Lächeln, das seine schadhaften Zähne entblößte. »Ich werde schon ganz gut ohne sie fertig. Also, Matty, sei ein gutes Mädchen, und gib das Lesen nicht auf.«
»Dafür werde ich schon sorgen«, meldete sich Lily zu Wort, während sie ihn von der Couch aus anlächelte. Sie konnte zwar nicht sagen, dass sie mit Matilda überglücklich war. Wie Aggie ihr erzählt hatte, müssten sich ihre Essgewohnheiten noch sehr stark ändern, und auch an ihrer Sprache würde sie feilen müssen. Doch Matilda hatte den ganzen Nachmittag nichts Falsches von sich gegeben, wobei sie natürlich insgesamt eher wenig gesprochen und stattdessen mit geweiteten Augen um sich geschaut hatte. Aber von Mr. Jennings war Lily begeistert. Er war ein anständiger und würdevoller Mann. Sie hatte vor diesem Gespräch große Angst gehabt und halb erwartet, er würde ihr Silber stehlen und auf den Boden spucken.
»Also gut, Matilda, warum führst du deinen Vater nicht zur Tür?«, schlug sie in einem warmen Tonfall vor. »Sicher wollt ihr noch ein paar Minuten allein sein.«
An der Haustür umarmte Matilda ihren Vater fest und musste gegen ihre Tränen ankämpfen.
»Sei bloß nie unverschämt zu ihnen«, mahnte Lucas heiser, während er sie eng umfasst hielt. »Lerne von ihnen, so viel nur möglich ist, und werde eine richtige Dame!«
»Ich besuche dich an meinem freien Nachmittag«, flüsterte sie.
Zu ihrer Überraschung fasste er ihre Schultern und schüttelte sie mit einem plötzlich sehr strengen Gesichtsausdruck. »Oh nein, Matty, das wirst du nicht tun. Du kommst nicht mehr zu uns.«
Sie dachte, er würde sie nicht mehr wiedersehen wollen, und schließlich begannen die Tränen, die sie
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